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Krieg – Wozu er gut ist

Krieg – Wozu er gut ist

Titel: Krieg – Wozu er gut ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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anderen Gegenden von Eurasiens Glücklichen Breiten gelangten Streitwagen auf dieselbe Weise wie in den Fruchtbaren Halbmond, entweder durch Immigranten oder durch Kaufleute aus Zentralasien. Ihre Machart war vom Mittelmeerraum bis ans Chinesische Meer praktisch identisch, was auf ihren gemeinsamen Ursprung schließen lässt. Wo auch immer sie zum Einsatz kamen, entsprachen die Streitwagen den militärischen Erfordernissen von Mobilität und Feuerkraft; und überall hatten sie dieselben chaotischen Folgen.
    Vielleicht hat es mit dem Wesen des Menschen zu tun, dass Organisationen, die auf die eine oder andere Funktionsweise eingespielt sind, neue Methoden nur zögernd annehmen, und genauso scheint es mit dem Streitwagen gewesen zu sein. Im Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds wurde er zunächst nicht etwavon den großen Reichen wie Ägypten und Babylon eingesetzt, sondern von kleineren Randgruppen wie den Kassiten, Hethitern und Hyksos, die – von 1700 v.   Chr. an – reichere Staaten besiegten, plünderten und manchmal sogar deren Herrscher stürzten. Auf ähnliche Weise brachten in China die dem Streitwagen gegenüber aufgeschlosseneren Stämme der Zhou 1046 v.   Chr. die Shang-Dynastie zu Fall. Ihre wirklich große Zeit hatten die Streitwagen denn auch erst, als sie schließlich von den größten und reichsten Staaten übernommen wurden (gegen 1600 v.   Chr. im Fruchtbaren Halbmond, 1000 v.   Chr. in China und 400 v.   Chr. in Indien). Was daran lag, dass nur reiche Staaten es sich leisten konnten, Streitwagen wirklich effektiv einzusetzen.
    Streitwagen waren teuer. Der Bibel zufolge bezahlte der König der Israeliten David 600 Silberschekel pro Exemplar und noch einmal 150 Schekel für das Pferd – und das in einer Zeit, in der ein Sklave für gerade mal dreißig Schekel zu haben war. Ein Text aus dem Hethiterreich des 14. Jahrhunderts vermittelt uns eine Vorstellung davon, warum sie so teuer waren, inklusive eines ausführlichen Berichts über ein unabdingbares siebenmonatiges Trainingsprogramm für die Pferde.
    Darüber hinaus entfalteten sie ihre Wirkung am besten im massierten Einsatz mit Hunderten von Fahrzeugen an den offenen Flanken, die den Himmel buchstäblich mit Pfeilen zu füllen vermochten. Je mehr Streitwagen der Feind hatte, desto mehr brauchte man selbst, was die benötigte Zahl exponentiell anwachsen ließ. Um 1625 v.   Chr. griffen die Hethiter Aleppo mit nur hundert Streitwagen an; in der Schlacht von Kadesch 1274 v.   Chr. dagegen traten sie mit 3500 an, dazu mit dem Zehnfachen an Infanterie. (Ihre ägyptischen Feinde brachten in etwa dieselbe Zahl auf.)
    Aufzucht, Training und Fütterung solcher Mengen von Tieren erforderten einen Quantensprung in Umfang und Kompetenz von Bürokratien und Kommissariaten, und von den Offizieren verlangte das Kommando über eine derartige Zahl von Fahrzeugen auf überfüllten, staubigen Schlachtfeldern gar noch mehr. Die große militärische Herausforderung im Fruchtbaren Halbmond des 3. Jahrtausends v.   Chr. hatte darin bestanden, der Infanterie den Frontalangriff beizubringen; im 2. Jahrtausend bestand sie darin, die Streitwagen dazu zu bekommen, zum richtigen Zeitpunkt in die richtige Richtung zu fahren. Die Lösung für all diese Probleme lautete: mehr Hierarchie, mehr Offiziere, höhere Ausgaben.
    Die stationären Banditen im Zeitalter des Streitwagens stählten ihre Herzen, verlangten ihren Untertanen mehr Steuern ab und stellten immergrößere Heere auf, um hinter ihren Nachbarn nicht zurückzubleiben. Wer immer versagte und seine Streitwagen auf dem Schlachtfeld zertrümmert und seine Infanterie Mann für Mann zur Strecke gebracht und niedergemetzelt sah, konnte nur auf die Stärke seiner Mauern hoffen. Und so taten denn auch Dimensionen und Finesse von Mauern und Türmen einen Riesensatz nach vorne; was, und hier entfaltete einmal mehr der Rote-Königin-Effekt seine Wirkung, zur Entwicklung besserer Rammen und zum Bau tieferer Tunnel führte. (Es ist durchaus möglich, dass uns mit Homers Ilias , die um 700 v.   Chr. in Griechenland entstand, eine verzerrte Erinnerung an eine zehnjährige Belagerung von Troja um 1200 v.   Chr. überliefert ist.)
    Die Leviathane mussten in der Zeit der Streitwagen größer und beängstigender, ihre Verwaltung effektiver, Armeen und Beamtentum professioneller werden. Und dennoch ist es durchaus möglich, dass das Resultat all dessen – infolge des uns mittlerweile vertrauten Paradoxons – in einer Abnahme der

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