Krieger der Stille
bei diesem heiligen Schauspiel. Sie verfolgten das Geschehen mit dem Enthusiasmus kleiner Kinder.
Dann löst sich der listenreiche Ager Mon aus der Gruppe seiner Komplizen und tanzt den Tanz der Träume um die am Fuße des Brunnens schlafende Étincelle. Er lenkt ihre Gedanken auf das Reh – das Symbol der Unschuld und der Hilfe der Engel und der Gottheiten. Nachdem Mon der Ager seine schändliche Tat vollbracht hat, verlässt er in Begleitung der Seinen auf Zehenspitzen die Bühne. Die Zauberer treten wieder auf. Étincelle erwacht und befiehlt ihnen, ihr das Herz des Rehs zu bringen. Sie ziehen lange Messer hervor und stürzen sich auf das verängstigte Tier. Es stößt einen Todesschrei aus, ehe ihm der Kopf vom Rumpf getrennt wird und zu Boden rollt. Das sprudelnde Blut benetzt die Oberkörper und die Arme der Tänzer. Eine scharfe Messerschneide dringt in seinen Körper ein, damit ihm das Herz herausgerissen werden kann. Währenddessen feiern die Ager den Untergang des magischen Königreichs, weil es nicht mehr unter dem Schutz der Engel und der Gottheiten steht. Die Zauberer werfen das blutende Herz Étincelle vor die Füße. Sie weicht erschrocken zurück …
In dem Moment versiegte der Springbrunnen, der Kristallfelsen nahm eine dunkle trübe Farbe an, die Früchte fielen ab und rollten auf den Boden.
Wie Kwen Daël erklärte, wiederhole sich dieses übernatürliche Phänomen alljährlich bei der Aufführung des heiligen Spiels. Indessen war es bis heute noch niemandem gelungen, Wahrheit und Fiktion in den Erzählungen der
Fischer auseinanderzuhalten, vor allem bei jenen vom Stamm der Daëls.
Die Ager stoßen ein Triumphgeschrei aus und stürmen das magische Land. Sie brüllen und umtanzen die beiden zusammengebrochenen Feechen und die Zauberer, die sich mit dem unschuldigen Blut des Rehs befleckt haben …
Da wurde Tixu Zeuge eines außerordentlichen Ereignisses: Ausnahmslos alle Frauen weinten bittere Tränen. Wahre Sturzbäche strömten aus ihren Augen und vermischten sich mit den Regentropfen. Ein Konzert bitterer Wehklagen hub an. Die Männer reckten die Arme gen Himmel und flehten die Götter um Verzeihung an, währen die Frauen mit gesenkten Köpfen weiter schluchzten.
Nach zwanzig Minuten tiefster, aufrichtigster Trauer fing der Brunnen so plötzlich wieder an zu fließen wie er aufgehört hatte. Das Kristall des Felsens wurde sichtbar heller, bis es seine ursprüngliche Transparenz wieder erlangt hatte. Und das Wehklagen der Frauen wandelte sich in Freudenrufe, der Schmerz der Menge in Entzücken. Die Ager, von Entsetzen ergriffen, flohen voller Scham. Die Feechen standen lächelnd auf, und die Zauberer tanzten den Tanz des wiedergewonnenen Glücks.
»Wieder einmal haben uns die Tränen der Feen gerettet«, flüsterte Kwen Daël Tixu ins Ohr. »Das Leben geht weiter, weil wir von unserem Vergehen reingewaschen wurden. Die Quelle des langen Lebens ist nicht versiegt, und das Kristall wird uns aufs Neue Früchte spenden …«
Der Sturm der Begeisterung war so groß, dass er bei Weitem das Trommeln des Regens und das Heulen des Windes übertönte. Eine unendliche Erleichterung zeichnete sich auf allen Gesichtern ab, denn ihre, tief in ihrem Bewusstsein verankerte, abergläubische Furcht, von den Engeln
und den Gottheiten verlassen worden zu sein, war nun ausgelöscht.
»Jetzt feiern wir die ganze Nacht!«, rief der Fischer. »Aber erst, wenn die Rektoren ihre traditionelle Rede gehalten haben.«
Also warteten die Selpdiker mit wachsender Ungeduld auf das Erscheinen der Rektoren, damit sie das Zeichen zum Feiern gäben. Schon warfen sich Männer und Frauen verheißungsvolle Blicke zu. Auch der eingefleischte Junggeselle Kwen Daël riskierte abschätzende Blicke in die Runde. Wie alle anderen würde er nach Stunden trunkener Lust irgendwo auf einer Straße oder einer Bank erschöpft und befriedigt einschlafen.
Endlich erschienen die zehn Rektoren des Rats auf der Bühne. Ungläubiges Erstaunen ergriff die Menge, denn die Rektoren waren nicht allein. Sie wurden von weiß maskierten Männern in grauen Uniformen begleitet. Hinter ihnen tauchten drei bizarre Gestalten auf, deren Gesichter unter weit geschnittenen Kapuzen verborgen waren. Die Kapuzenmäntel hatten die Farben blau, rot und schwarz.
Tixu gefror das Blut in den Adern, und sein Herz raste.
»Kennen Sie diese Leute?«, fragte Kwen Daël. Ihm war die Reaktion des Orangers nicht entgangen.
Die Pritiv-Söldner stießen die Tänzer,
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