Krieger der Stille
H. Brenton, einer der Schüler des Mahdi Bertelin Naflin, der ihm sehr nahestand.
E in Klirren unterbrach die in Filp Asmussas Zelle herrschende absolute Stille, denn durch die meterdicken Steinmauern drang weder Licht noch Laut. Knarrend wurde jetzt die Tür geöffnet, und grelles Licht blendete den im Finstern sitzenden Krieger.
Die Silhouette des Ritters Choud Al Bah, Leiter der Verwaltung und Beichtvater des Kriegers, zeichnete sich im Gegenlicht ab. Nach zwei durchwachten Nächten zur Unterstützung seines Patenkindes war er müde und abgespannt. Über seinen grünen, sonst so strahlenden Augen lag ein grauer Schleier. Er trug die dunkelgraue Kutte des Ritters und nicht die den Mitgliedern der Verwaltung vorbehaltene grüne Robe.
Seit Filp in seine Zelle eingeschlossen worden war, hatte er jedes Zeitgefühl verloren, denn er sollte während dieser Tage und Nächte absoluter Besinnung von allen äußeren Einflüssen abgeschirmt werden, damit er sich ganz und gar in den See des Xui versenken konnte und Zwiesprache mit seinem Gewissen und der absoluten Wahrheit halten konnte. Er durfte keinerlei Nahrung zu sich nehmen und nicht schlafen. Diese Exerzitien dienten der Reinigung des Aspiranten und seiner Vorbereitung auf die Ritterschaft. Sehr alte Ritter behaupteten, diese Einkehr habe früher nicht drei, sondern dreißig Tage gedauert, und sollte ein Krieger währenddessen nicht den erwünschten Zustand
der Berufung und geistigen Klarheit erreicht haben, habe das seinen Tod bedeuten können.
Nachdem sein Pate, Choud Al Bah, die Zellentür in Begleitung eines Gardisten des Entscheidungsgremiums vorschriftsmäßig verschlossen hatte, folgte Filp in der plötzlich nachtschwarzen Stille dem Rat seines Beichtvaters, der ihm gesagt hatte, er solle ohne Restriktion einfach dem Fluss seiner Gedanken folgen.
»Lasst Eure Gedanken schweifen, Euch von ihnen führen. Denn ihre Quelle ist der See des Xui. Eure Energie. Eure Wahrheit. Sie wird ganz von selbst erscheinen, ohne dass Ihr sie aufspüren müsst. Nur eines ist wichtig: Dem Schlaf müsst Ihr entsagen. Solltet Ihr einschlafen, könnte Euch die Offenbarung nicht zuteil werden. Doch zu fürchten braucht Ihr Euch nicht. Denn diese Offenbarung wird Euch sagen, ob Ihr der Ritterschaft würdig seid … Ich hingegen bin dessen schon überzeugt …«
Anfangs dachte Filp spontan an Aphykit. Er ist überzeugt, dass seine härteste Prüfung darin besteht, sie drei Tage nicht sehen zu können. Er sehnt sich danach, sie wiederzusehen. Und er kann es kaum erwarten, die graue Kutte des Ritters anzulegen, weil er sich ihrer nur in diesem Stand würdig fühlt. Ihr Gesicht ist ihm immer präsent und wird umso deutlicher, wenn er müde wird oder ihn auch nur der geringste Zweifel beschleicht. Doch nach und nach wird dieser Zweifel immer größer. Er gleicht den zahllosen vergifteten Pfeilen, die während der Befragung der Weisen auf die hastig errichtete Festungsmauer seines Glaubens abgeschossen wurden. Und dieser Zweifel spricht mit der Stimme des Ritters Long-Shu Pae, des Verbannten, dessen Worte in der Erinnerung des Kriegers auftauchen und den Klang der Wahrheit haben, einen ganz
anderen Klang als die von den Alten des Klosters verkündete Wahrheit.
Je mehr Zeit verstreicht – und sie verstreicht unendlich langsam –, umso mehr Platz nimmt Long-Shu Pae in Filps Denken und Fühlen ein. Noch im Tod greift der verbannte Ritter in Filps Herz und durchdringt seine Seele. Filp fühlt, dass der Ritter seine Seele einnimmt.
Noch versucht er dem zu fliehen, wie ein kleines Beutetier, das versucht, den Klauen der Raubkatze zu entkommen. Doch er muss sich der Erkenntnis beugen: Jede Anstrengung, sich von Long-Shu Pae zu lösen, bewirkt nur eine noch größere Faszination. In diesem für seine Zukunft entscheidenden Augenblick kann er sich nicht mehr hinter seiner Arroganz und Überzeugung verstecken, und diese Entblößung seiner selbst macht ihm schrecklich Angst. Noch zögert er seine Niederlage hinaus; er konzentriert sich auf Aphykit, auf Kindheits- und Jugenderinnerungen, auf seine Familie, auf seinen langen Weg bis in diese feuchte, dunkle Zelle.
Doch diese geistige Flucht tröstet ihn nicht im Geringsten. Und jetzt stellt er sich der Erkenntnis.
Long-Shu Paes Worte sind die Worte der ursprünglichen Lehre, so wie die Mahdis der Gründerzeit sie verkündet haben. Der Orden aber hat diese Lehre im Laufe der Zeit immer mehr verfälscht, und der ihm drohende Konflikt ist
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