Kriminalgeschichte des Christentums Band 01 - Die Fruehzeit
so bestimmt«) mit dem »Geiste unvoreingenommener Nüchternheit und Objektivität« renommiert?! Und ist es nicht der Gipfel des Grotesken, solche Figuren selbst von der Wissenschaft noch weithin gewürdigt zu sehen?! 66
Gerade sie aber verbinden dann am liebsten mit ihrer Verwerfung des Wertens, des Zu-Gericht-sitzen-Wollens (anderer!), die pharisäisch vorgebrachte Floskel, die allerdings die meisten Geschichtsbücher ziert, man müsse das und das »aus der Situation der Zeit« verstehen (Dempf) – das spätantike Reichsgesetz zum Beispiel, das verurteilte »Häretiker« als Aufständische behandelt, überhaupt die damalige Kirchenpolitik der Kaiser gegen die »Ketzer« oder »genauso«, wie Dempf hilfreich gleich hinzufügt, »wie die entsprechende Periode unserer abendländischen Kultur [!], die Zeit von etwa 1560–1648, der Dauer der Religionskriege« 67 . All dies und sehr viel mehr, auch die ganze Zeit dazwischen muß »aus dem Geist der Zeit heraus« verstanden und erklärt werden! Besonders theologische Kirchenhistoriker kommen um diese Beschwichtigungs-, Verharmlosungs-, Bagatellisierungsgeste, die keinesfalls grundsätzlich verworfen werden soll, nie herum. Man müsse es verstehen, das heißt, man macht es verständlich, es wird verständlich und ist dann, hat man es erst einmal »aus dem Geist der Zeit heraus« verstanden, gar nicht mehr so schlimm, es hat sozusagen so sein müssen, ist ja die ganze Geschichte gottgewollt.
Der Theologe Bernhard Kötting erklärte 1977 vor der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, man könne heute nicht von den Bischöfen der konstantinischen Zeit verlangen, »daß sie dem Kaiser etwa aus dem Geist der christlichen Liebe heraus die Gleichstellung aller religiösen Kultgruppen hätten nahelegen müssen. Das würde bedeuten, den geistigen Horizont, in dem die Menschen der Antike lebten, willkürlich von uns aus zu bestimmen und unsere Vorstellung von der Herleitung der staatlichen Macht in das 4. Jh. hineinzuprojizieren.« 68
Diese im Namen historischen Denkens vorgebrachte Argumentation ist gerade diesem Denken selbst gegenüber unwürdig, ist mehrfach absurd. Erstens nämlich war die heidnische Antike religiös im allgemeinen tolerant. Zweitens haben gerade die christlichen Schriftsteller des 2., 3. und frühen 4. Jahrhunderts immer wieder und leidenschaftlich aus dem »Geist der christlichen Liebe« Religionsfreiheit gefordert! Drittens, was ist denn der »Geist der christlichen Liebe« überhaupt wert, wenn man ihn ständig mißachtet – im 4. Jahrhundert genauso wie in allen Jahrhunderten seitdem, nicht zuletzt auch im 20. (im Ersten Weltkrieg, im Zweiten, im Vietnam-Krieg), in dem die Christen doch kaum noch im geistigen Horizont der Antike leben, aber sicher noch immer genauso wenig im »Geist der christlichen Liebe«. Das alles ist doch kein Hineinprojizieren anachronistischer Vorstellungen! Der »Geist der christlichen Liebe« war für die Mächtigen – in Staat und Kirche – zu keiner Zeit brauchbar, daher stets bloß auf dem Papier beschworen, in Wirklichkeit aber stets abscheulich verraten worden. Dies ist der wahre Zeitgeist gewesen, und er blieb sich zu allen Zeiten gleich – das andere ist nichts als Augenwischerei.
Der »Geist der Zeit« jedoch, apologetisch so nützlich, wird immer wieder in die Köpfe gezaubert, entschuldigend, beschuldigend, gleichviel. Als habe nicht schon Goethe im
›Faust‹
gehöhnt:
»Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist.«
Doch falls man dem geziemend antichristlichen, sehr antiklerikalen Dichter mißtraut, so mag noch der hl. Augustin hier stehen. »Schlechte Zeiten, mühsame Zeiten, so sagen die Menschen«, schreibt er. »Laßt uns gut leben, und gut sind die Zeiten.
Wir sind die Zeiten; wie wir sind, so sind die Zeiten.
« 69 Und auch an anderer Stelle bezichtigt Augustin predigend nicht Zeit und »Zeitgeist«, sondern die Menschen, die alle Schuld – wie viele Historiker noch heute – auf die Zeiten schöben, auf lästige Zeiten, schwere Zeiten, elende Zeiten. Doch: »Die Zeit verletzt niemand. Die verletzt werden, sind Menschen, und Menschen sind es, von denen sie verletzt werden. O großer Schmerz: Menschen werden verletzt, Menschen werden beraubt, Menschen werden unterdrückt! Von wem? Nicht von Löwen, nicht von Schlangen, nicht von Skorpionen, sondern von Menschen. In Schmerzen sind, die verletzt werden. Und tun sie nicht selber, wenn sie können,
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