Kriminalgeschichte des Christentums Band 01 - Die Fruehzeit
macht. Entscheidend ist, daß diese Reflexion zur Aktion wird, daß sie das Denken und Tun der Menschen, auch ihrer Führer und Verführer, beeinflußt, mitbestimmt, vielleicht sogar maßgeblich, daß alle Historiographie somit »einen dreifachen Aspekt« hat: »Sie erzählt, ist und bewirkt Geschichte« (Beumann). 78
Historiker hatten niemals eine geringe Meinung von sich. Sie wuchs noch im Lauf der Zeit und war wohl nie so herausgefüttert wie gestern und heute – trotz aller Theoriedefizite, methodologischen Skrupel, Selbstzweifel und Selbstbezichtigungen und aller rivalisierenden Richtungen in der Historiographie, von Außenattacken zu schweigen. »Der Ort der entrealisiert-vergangenen Geschichte ist der Kopf des Historikers. Was sich dort von der Realgeschichte aufbewahren kann, ist ihr
Inhalt
« (Junker/Reisinger). Sehen sich doch viele Geschichtsschreiber gerade des 20. Jahrhunderts so sehr als Akteure der Geschichte, daß Edward Hallet Carr tadelt: »Geschichte ist, was der Historiker macht.« 79
Dies ist nur ein Teil der Wahrheit. Wichtiger und die Regel, daß man Geschichte für und gegen Menschen macht, daß eine Minderheit für die Minderheit und gegen die Mehrheit regiert, gegen die duldenden, leidenden Massen; die Regel, daß politische Geschichte auf Macht, Gewalt, Verbrechen beruht; die Regel leider auch, daß dies das Gros der Historiker noch immer nicht beim Namen nennt, vielmehr rühmt – nach wie vor Potentaten und Zeitgeist zu Diensten. Die Regel somit weiter, daß Geschichtsschreibung die Politik nicht verbessert, sondern »gewöhnlich von ihr verderbt wird« (Ranke) – und diese selber wieder verdirbt! Denn wie man Politik zwar für die (Masse der) Menschen machen könnte, gewöhnlich aber gegen sie macht, so wird gegen sie gewöhnlich auch die Geschichtsschreibung geschrieben. Es geht uns jedoch, mit Voltaire zu sprechen, um das Schicksal der Menschen, nicht um die Revolution des Thrones. Jeder Geschichtsschreiber hätte sagen müssen
homo sum,
doch die meisten haben nur Schlachten beschrieben. So ist es lange noch nach Voltaire, ist es grosso modo häufig noch heute. Und besteht zumindest prinzipiell der Satz des Johannes Chrysostomos zu Recht: »Wer die Sünde lobt, ist viel schlechter als der, welcher sie begeht«, dann ist auch jeder, der Geschichtsverbrechen und -verbrecher preist, schlechter noch als diese selbst. 80
Die Frage erhebt sich, was ist ein Verbrechen? Wer ist Verbrecher?
Ich werde dazu nicht das Strafgesetzbuch bemühen, weil jedes solche Gesetzbuch sozusagen gesellschaftskonservierend, Ausdruck der Ideologie des Establishments, weil es unter dem Einfluß einer herrschenden Minderheit und deshalb gegen die beherrschte Mehrheit geschrieben ist. Ich gehe von der communis opinio, übrigens auch der Rechtswissenschaft, aus, daß Mörder der ist, der einen anderen Menschen absichtlich tötet, zumal wenn er dies aus »niederen« Motiven tut, etwa um ihn zu berauben oder sich an seine Stelle zu setzen. Nun ist es ein großer Unterschied für Justitia, ob man
einen
ermordet oder
Millionen,
nur jenes gilt als kriminell; ein großer Unterschied auch, ob Millionen
ermordet
werden oder Millionen
gestohlen
– bloß dies ist justiziabel. Für mich verdient solche »Gerechtigkeit« nicht den Namen.
So klar aber das allgemeine Bewußtsein zu wissen glaubt, wer Verbrecher, so klar auch, wer Held ist. Und wer, außer Staat und Kirche, hätte mehr dazu beigetragen als die Geschichtsschreibung selbst? Durch den weitaus größten Teil unseres Zeitraums hofiert die Quellentradition die unterdrückenden und ignoriert die unterdrückten Schichten, präsentiert sie meist glanzvoll die Akteure der Historie, die kleine Despotenmeute derer, die sie machte, und selten oder nie den Buckel derer, die sie ausgetragen. Derart aber wirkte die Historiographie, besonders in den letzten Jahrhunderten, buchstäblich katastrophal. Erst 1984 zeigte Michael Naumann in seiner Schrift
›Strukturwandel des Heroismus‹,
daß man seit dem Absolutismus »politische Macht, gesellschaftliche Institutionen, Geschichte und nationale Identität gleichsam bildhaft im Nationalheros ›zusammengefügt‹ und verkörpert«, daß auch die Masse die Handlungen solcher »Heroen« als »existentiell repräsentativ« rezipiert hat, als »nachahmenswert«, und »daß unter diesen Männern
stets von den Historikern selbst ›Helden‹ verstanden wurden
« 81 .
Heroismus, politischer Heroismus, aber ist immer viel weniger der
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