Kriminalgeschichte des Christentums Band 01 - Die Fruehzeit
Machtfrage wird.« 74
Selbst unter den Christen war nicht jeder geschlagen durch den Zeitgeist! Nicht jeder blind! So spottet Peire Cardinal, der große Troubadour, über Hugo von Montfort und dessen Grabsteinspruch: »... wenn jemand dafür, daß er Menschen hinmordete, Blut vergoß, Seelen verlorengehen ließ, daß er in Mordtaten einwilligte, verderbten Ratschlägen folgte, Feuersbrünste entfachte, vernichtete, schändete, Ländereien gewaltsam wegnahm, Frauen tötete, Kinder erwürgte: dann soll er die Krone tragen und im Himmel glänzen.« 75 Ja, im 13. Jahrhundert gibt es eine ganze satirisch-ironische Kreuzzugsliteratur. So höhnt der Franzose Rutebeuf:
»Wein trinkt man erst mal ungeheuer
Und streckt berauscht sich aus am Feuer,
Dann greift zum Kreuz man mit Hurra –
Und sieh, schon ist der Kreuzzug da,
Der dann beim ersten Morgenlicht
In wilder Flucht zusammenbricht.« 76
Nicht jeder also war vom Zeitgeist besessen, nicht jeder kritiklos und außerstande zu vergleichen, zu prüfen, zu richten. Durch alle Jahrhunderte auch gab es ethisches Denken, nicht zuletzt in christlichen Kreisen, unter »Ketzern«. Und warum das Christentum nicht auch an seinen eignen biblischen, mitunter sogar an kirchlichen Maßstäben messen? Warum ausgerechnet das Christentum nicht an seinen Früchten erkennen wollen?
Ich bekenne mich, wie jeder Gesellschaftskritiker, zur wertenden Geschichtsschreibung. Ich betrachte die Geschichte, wie mir das nützlich, weil notwendig scheint, ethisch engagiert unter dem Anspruch eines »humanisme historique«.
Für mich ist ein Unrecht, ein Verbrechen, vor 500, 1000, 1500 Jahren genauso lebendig und empörend wie ein Unrecht, ein Verbrechen, das heute geschieht oder erst in 1000, in
5000 Jahren.
Ich schreibe also politisch motiviert, das heißt in aufklärerisch-emanzipativer Absicht. Die »histoire existentielle« steht mir allemal näher als die »histoire scientifique«. Und die neuerdings vielverhandelte Frage, ob Geschichte überhaupt eine Wissenschaft sei – schon von Schopenhauer und Buckle bestritten –, kümmert mich wenig; ja, die argumentativen Anstrengungen (und Verrenkungen) so vieler Berufshistoriker, den Wissenschaftscharakter ihrer Disziplin (und ihr Ansehen) zu wahren, erscheint mir suspekt, weniger »wissenschaftlich« oft als »allzumenschlich«. Solang es unsresgleichen gibt, wird man Geschichte treiben, mag man ihr das Prädikat Wissenschaft zuerkennen oder nicht. Wozu die Aufregung! Die Theologie ist auch keine Wissenschaft, allenfalls die einzige, deren Vertreter – und das läßt sich den Historikern nicht nachsagen – keine Ahnung von ihrem Forschungsobjekt haben; und doch verfügt sie über verhältnismäßig weit mehr Lehrstühle als jede andre. Zumindest hierzulande gab es in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Würzburg für 1149 Studenten der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät 10 Lehrstühle, für 238 Theologen 16! Ja, in Bamberg finanzierte damals der christlich-sozial regierte Freistaat Bayern für 30 Theologiestudenten 11 Professuren! Für 30 künftige Gottesgelehrte, sofern sie nicht trotz allem absprangen, immer noch mehr Ordinarien als für 1149 Studenten einer weniger jenseitsbezogenen Wissenschaftsrichtung! 77
Ich kann Geschichte – schon dies Beispiel, ein Tröpfchen nur aus einem Meer von Ungerechtigkeit, müßte es verständlich machen – nicht sine ira et studio erforschen. Es widerstrebt meinem Gerechtigkeitssinn; auch meinem Mitleid. Wer nicht Feind vieler Menschen ist, ist der Feind aller. Und wer Geschichte ohne Haß und Gunst betrachtet oder gar beschreibt, gleicht er nicht jenem, der die Opfer eines Großbrands ersticken, verbrennen, zu Tode stürzen sieht und all dies teilnahmslos registriert? Historiker, die sich an »reine« Wertmaßstäbe klammern, an »reine« Wissenschaft, sind unehrlich. Sie betrügen die andern oder sich selbst, ja, sie sind, da es kein schlimmeres Verbrechen gibt als Gleichgültigkeit, kriminell. Gleichgültigsein heißt unablässig morden.
Dies klingt vielleicht ungewohnt, hart, folgt aber aus der Doppelbedeutung unseres Geschichtsbegriffs, der das Geschehen sowohl wie dessen Darstellung bezeichnet – res gestae und rerum gestarum memoriae. Ist Geschichtsschreibung doch nicht bloß
Geschichtsschreibung,
sondern stets auch
Geschichte,
ein Teil derselben, indem sie diese nicht nur, auf welche Art immer, spiegelt, sondern auch bewirkt, nicht bloß beschreibt, sondern auch
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