Kriminalgeschichte des Christentums Band 04 - Fruehmittelalter
Karlmann (nach großen Geschenken an Kirchen und Klöster, besonders an die Kathedrale in Reims und die Abtei Saint-Denis) am 4. Dezember 771, am Rand der schönen Wälder bei Laon, wo er so gern gejagt, erst zwanzigjährig gestorben. Vermutlich verhinderte nur dies einen sich schon abzeichnenden Bruderkrieg. Karl aber, damals vielleicht 30 Jahre alt, wurde jetzt der Beherrscher des ganzen Frankenreiches: durch einen offenkundigen Rechtsbruch, indem er das Erbrecht der Söhne Karlmanns, beide noch im Kindesalter, mißachtet und so durch raschen Raubgriff das Reich seines Bruders an sich gerissen hat.
Dies war schließlich eine jahrhundertealte christliche Tradition in Ost und West. Und es lag überdies in der Familie. Denn ganz ähnlich hatte schon Karls Großvater Karl Martell – übrigens (ebenfalls?) als Bastard – die unmittelbaren Erben ausgeschaltet. Und hatte nicht auch Karls Vater Pippin die Söhne seines abgedankten Bruders Karlmann 754 zu Mönchen geschoren und so ihr Erbrecht für immer im Kloster begraben? (S. 385) Europas Begründer. Europas große Vorbilder. Europas Ideale!
Karl eilte nach Corbény (ein karolingisches Palatium an einer alten Römerstraße zwischen Laon und Reims), nur wenige Kilometer vom Sterbeort seines Bruders entfernt, und rief dessen Große zusammen. Die meisten kamen, nicht zuletzt Bischöfe und Äbte, und erkannten Karls Staatsstreich an. Die Reichsannalen nennen von denen, die sich ihm unterwarfen, »den Bischof Wilhar von Sedunum (Sitten im Wallis), den Priester Folrad und viele andere Geistliche« an erster Stelle. Denn Gewalt geht vor Recht – auch stets und gerade für den hohen Klerus, sobald große Gewalt ihm auch große Vorteile verspricht. Rechtsbrecher Karl wurde Nachfolger im Reich seines Bruders, das ihm, wie man schon recht euphemistisch sagte, »nach dem Rechte der Anwachsung« zufiel. Er wurde erhoben und gesalbt. Doch noch später vermeiden es seine Urkunden mit Absicht, Karlmanns Namen auch nur zu nennen. Gerberga aber, Karlmanns Witwe, flüchtete mit ihren Kindern an den Hof des Langobardenkönigs Desiderius.
Über Karls Kindheit und Jugend wissen wir fast nichts, seltsamerweise. Sogar das Geburtsjahr ist umstritten. Häufig wird – nach den angeblich verläßlicheren Annalen – der 2. April 742 als Geburtstag genannt. Das neue, noch unabgeschlossene »Lexikon des Mittelalters« meint indes (konform mit den angeblich zweitrangigen Quellen): »wohl 2. April 747«. Das Tagesdatum entstammt einem alten Kalender des Klosters Lorsch.
Lange Zeit galt Karl auch als uneheliches Kind; hat man geglaubt, daß er vor der Heirat seiner Eltern geboren worden sei, einer Friedelehe mit Bertrada, der Tochter des Grafen Caribert von Laon entstamme, einer Liaison, die erst Jahre nach seiner Geburt zu einer Vollehe wurde. Das könnte unter anderem verständlich machen, warum er sich mit dem sicher ehelich geborenen Bruder Karlmann nicht verstand. Würde auch gut die auffallende Diskretion seines Biographen Einhard erklären, der in seiner »Vita Karoli Magni« meint: »Ich halte es für sinnlos, von Karls Geburt, Kindheit und Jugendzeit zu erzählen, da bisher noch nie davon berichtet wurde und heute auch niemand mehr lebt, der Auskunft darüber geben könnte.« Zwar schrieb Einhard sein berühmtes Buch erst fünfzehn bis zwanzig Jahre nach Karls Tod, weilte aber selbst schon zwanzig Jahre vor diesem Tod am Hof des damals etwa fünfzigjährigen Königs. Er verkehrte bald in dessen engstem Familienkreis, war sein Tischgenosse, Vertrauter, und es ist ganz und gar unwahrscheinlich, daß er nichts über Kindheit und Jugend seines Helden gehört haben, daß nicht einmal dessen Geburtsdatum bekannt gewesen sein soll; zumal Einhard ja selbst sagt, Karl habe fast unaufhörlich gesprochen, man konnte ihn »geschwätzig« nennen. Auch Paulus Diakonus berichtet, Karl habe gern von seinen Ahnen erzählt. Doch auch die Reichsannalen nennen ihn nur ein einziges Mal namentlich vor seinem Regierungsantritt (bei der Salbung durch Stephan II. in Saint-Denis 754: S. 383 f.).
Nicht erst in jüngster Zeit allerdings behauptet man eine eheliche Bindung von Pippin und Bertrada bereits bei der Geburt ihres ältesten Sohnes. Das paßt jedenfalls besser in das Bild vom »Vater Europas«, von seiner Heiligkeit zu schweigen, wovon sich seinerzeit die Päpste freilich noch nichts träumen ließen. 14
Nachfolger Stephans wurde Hadrian I. (772–795); kein Papst zuvor hat je so lang regiert.
Hadrian,
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