Kriminalgeschichte des Christentums Band 05 - Das 9 und 10 Jahrhundert
wollte die Macht der Bischöfe, des Papstes gegenüber dem Staat stärken, und da man keine oder doch keine ausreichenden Rechtsgrundlagen hatte, schuf man sie einfach, fälschte sie. Ihren riesigen Schwindel aber gaben die geistlichen Halunken (wohl ein Pleonasmus) als das Werk des 636 in Sevilla verstorbenen Kirchenlehrers Isidor von Sevilla aus. Er war einer der bekanntesten frühmittelalterlichen Autoren, ja seit Augustinus der angesehenste Heilige des Abendlandes. Zudem wußte man von ihm, daß er ein umfangreiches Rechtsbuch hinterlassen, und so haben diese Rechtsfälschungen während des ganzen Mittelalters als echtes Erzeugnis Isidors gegolten und kraft seiner Autorität entsprechend gewirkt.
a) Umfang und Art
Der Umfang dieses Kriminalakts ist so außerordentlich, daß die bis heute erhaltenen Manuskripte und Fragmente, auf normales Buchoktav übertragen, mehrere tausend Seiten Text umfassen würden. Wahrscheinlich handelt es sich auch nicht um die Arbeit eines einzelnen, sondern einer ganzen theologischen Fälscherzentrale, einer Gruppe wohlinformierter westfränkischer Kleriker, »Reformer« ganz offensichtlich, denen das bisherige Staatskirchenrecht im fränkischen Reich nicht paßte, die aber bis heute, trotz aller Nachforschungen, unbekannt geblieben sind. Zweifellos belesen und rechtlich wie archivalisch geschult, haben sie ein ungeheures Material mehr oder weniger geschickt zusammengeflickt, Echtes und Gefälschtes miteinander verbindend.
Der pseudoisidorische Komplex besteht aus vier großen Gruppen:
1) Die Hispana Gallica Augustodunensis, die verfälschte Bearbeitung einer Sammlung spanischer Kanones des 7. Jahrhunderts.
2) Die Capitula Angilramni, eine Kollektion von echten und unechten konziliaren, päpstlichen und kaiserlichen Gesetzen, die angeblich Papst Hadrian I. (772–795) dem Bischof Angilram von Metz am 14. September 786 übergeben hatte, einem Seelenhirten, der 791 auf einem Feldzug Karls I. gegen die Awaren starb. Der Zweck dieser Kapitel Angilrams entsprach dem Bestreben der fränkischen Prälaten, Anklagen gegen sie möglichst zu erschweren und sie nur einem geistlichen Gericht zu unterstellen, da eine Krähe bekanntlich keiner anderen die Augen aushackt. Die capitula Angilramni, die somit schlicht darauf hinauslaufen, daß Päpste und Bischöfe nicht anklagbar seien, daß sie sich, wie Katholik Hans Kühner schreibt, »alle Taten erlauben können«, erweitern damit noch die großen Symmachianischen Fälschungen aus dem 6. Jahrhundert (II 341 ff.).
3) Der Benediktus Levita, eine enorme Anhäufung königlicher und kaiserlicher Dekrete von Pippin bis zu Ludwig dem Frommen, eine Kapitularienzusammenstellung in drei Büchern von insgesamt 1721 Kapiteln, wovon gut dreiviertel gefälscht oder verunechtet sind! Kirchliche Vorschriften wurden hier, um sie durch Staatsautorität zu decken, zu fränkischen Reichsgesetzen der jüngsten Vergangenheit umfrisiert und von einem angeblichen Mainzer Diakon Benedictus Levita 847 im angeblichen Auftrag seines Erzbischofs Otgar als Fortsetzung der offiziell anerkannten Kapitulariensammlung des 833 gestorbenen Abtes Ansegis von Fontenelle (St. Wandrille) ausgegeben.
4) Die Pseudoisidorischen Dekretalen (Decretales Pseudo-Isidorianae), die umfangreichste und wichtigste Kollektion unter allen vier Gruppen, weil sie zu größtem Einfluß und Erfolg gelangte: eine Anthologie von Papstbriefen und Konzilsakten vom ausgehenden 1. bis ins 8. Jahrhundert, von etwa 90 bis 731. Unter dem durchtrieben erzeugten Anschein altertümlicher Echtheit will sie als vollständiges kirchenrechtliches Gesetzbuch der Catholica gelten. Dabei wurden die Dekretalen der Päpste der ersten Jahrhunderte vom angeblichen Klemens bis auf den hl. Miltiades (311–314) in lückenloser Folge durchweg gefälscht, die Dekretalen vom hl. Silvester I. (314–335) bis zum hl. Gregor II. (715–731) zum Teil gefälscht. Durch Einschübe verunechtet hat man eine lange Reihe von Konzilsbeschlüssen, vom hochberühmten Nicänum (325) bis zur dreizehnten Synode von Toledo (683). Besonders bemerkenswert, daß die Kleriker in ihre gewaltige Fälschung eine noch größere aufnahmen: die »Konstantinische Schenkung«, aller Wahrscheinlichkeit nach das Produkt (der Kanzlei) Papst Stephans II., ein Jahrhundert früher verbrochen (ausführlich: IV 405 ff.).
Das ganze weltgeschichtliche Schurkenstück besteht aus rund zehntausend Zitaten, Exzerpten, nicht immer geschickt Wahres und Falsches
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