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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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stärker beschädigt, und ein Arm- oder Beinbruch führte fast immer zur Amputation. Die russische Praxis, erst in letzter Sekunde aus nächster Nähe auf den Feind zu schießen, hatte zur Folge, dass ihre Gewehre maximalen Schaden anrichteten. 7
    In den Krankenhäusern der Alliierten lagen Soldaten mit grausigen Wunden, doch genauso viele fand man in den russischen Lazaretten, Opfer des noch wirkungsvolleren Geschütz- und Gewehrfeuers der Briten und Franzosen. Christian Gjubbenet, ein Chirurgieprofessor, der im Militärkrankenhaus in Sewastopol arbeitete, schrieb im Jahr 1870:
    Ich glaube nicht, dass ich je so furchtbare Verletzungen gesehen habe wie die, mit denen ich mich in der letzten Phase der Belagerung beschäftigen musste. Die schlimmsten waren zweifellos die häufig auftretenden Bauchwunden, bei denen die blutigen Eingeweide der Männer heraushingen. Wenn solche Unglücklichen in die Verbandsstationen gebracht wurden, konnten sie noch sprechen, waren noch bei Bewusstsein und blieben noch einige Stunden am Leben. In anderen Fällen waren die Gedärme und das Becken im Rücken herausgerissen. Die Männer konnten den Unterkörper nicht bewegen, doch sie blieben bei Bewusstsein, bis sie innerhalb von ein paar Stunden starben. Für den schrecklichsten Eindruck aber sorgten gewiss diejenigen, deren Gesicht von einer Granate zerfetzt worden war, so dass sie keinen menschlichen Anblick mehr boten. Man stelle sich ein Geschöpf vor, dessen Gesicht und Kopf durch eine blutige, verworrene Masse aus Fleisch und Knochen ersetzt worden sind – Ohren, Nase, Mund, Wangen, Zunge, Kinn und Ohren sind nicht mehr zu sehen, und doch steht dieses Wesen weiterhin auf eigenen Beinen, bewegt sich, schwenkt die Arme und lässt uns annehmen, dass es noch ein Bewusstsein besitzt. In anderen Fällen waren dort, wo man ein Gesicht erwartet hätte, nur noch blutige Fetzen herabhängender Haut. 8
    Die Russen hatten viel schwerere Verluste zu beklagen als die Alliierten. Bis Ende Juli waren 65 000 russische Soldaten in Sewastopol getötet oder verwundet worden – mehr als doppelt so viele wie bei den Alliierten – , die Opfer von Krankheiten oder Seuchen nicht mitgerechnet. Durch die Bombardierung der Stadt im Juni waren mehrere Tausend Verwundete hinzugekommen, nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten, die in den bereits überfüllten Krankenhäusern untergebracht werden mussten (allein am 17. und 18. Juni waren 4000 Opfer zu verzeichnen). In der Adelsversammlung »wurden die Verwundeten auf dem Parkettboden nicht nur Seite an Seite, sondern auch übereinander hingelegt«, erinnerte sich Dr. Gjubbenet. »Das Stöhnen und die Schreie von tausend sterbenden Männern erfüllten den düsteren Saal, der durch die Kerzen der Krankenwärter nur schwach beleuchtet war.« In der Pawlowsk-Batterie drängten sich weitere 5000 verwundete russische Soldaten auf den nackten Fußböden der Löschplätze und Lagerhäuser genauso dicht aneinander. Um die Überfüllung zu verringern, bauten die Russen im Juli ein großes Feldlazarett unweit des Flusses Belbek, sechs Kilometer von Sewastopol entfernt, wohin die weniger schwer Verwundeten gebracht wurden, wie es Pirogows Triagesystem vorsah. Weitere Reservekrankenhäuser gab es am Inkerman, auf den Mackenzie-Höhen und im früheren Khanspalast in Bachtschisserai. Einige Verwundete transportierte man mit Pferd und Wagen auf Landstraßen bis nach Simferopol und sogar bis in das 650 Kilometer entfernte Charkow. Auch in diesen Städten waren sämtliche Krankenhäuser mit Opfern der Belagerung überfüllt. All das genügte trotzdem nicht, um der ständig wachsenden Zahl von Kranken und Verwundeten Herr zu werden. Im Juni und Juli kamen täglich mindestens 250 Russen hinzu. In den letzten Belagerungswochen waren pro Tag bis zu 800 Verluste zu beklagen – zweimal so viele, wie Gortschakow nach Aussage späterer russischer Kriegsgefangenen der Alliierten offiziell meldete. 9
    Die Russen gerieten zunehmend in Bedrängnis. Nach der alliierten Besetzung von Kertsch und der Unterbrechung der russischen Nachschublinien im Asowschen Meer litten sie seit Anfang Juni unter erheblichen Engpässen bei Munition und Geschützen. Kleine Mörsergranaten waren das Hauptproblem. Batteriekommandeure erhielten den Befehl, ihr Feuer auf ein Viertel der Schüsse des Feindes zu begrenzen. Gleichzeitig erreichte das Bombardement der Alliierten ein Ausmaß, wie man es in einem Belagerungskrieg noch nie erlebt hatte. Ihre Fabriken

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