Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
In ihren Erinnerungen schrieben manche vom »Schützengrabenwahnsinn« und meinten damit vermutlich diverse psychische Symptome oder Krankheitsbilder, von Klaustrophobie bis hin zu dem, was später als »Granatenschock« oder »Kriegsneurose« bekannt wurde. Louis Noir erinnerte sich an viele Beispiele dafür, dass »ganze Kompanien« schlachtenerprobter Zuaven »plötzlich mitten in der Nacht aufstanden, nach ihren Gewehren griffen und andere hysterisch um Hilfe gegen imaginäre Feinde baten. Diese nervöse Übererregung steckte zahlreiche Männer an; bemerkenswerterweise wirkte sie sich vor allem auf diejenigen aus, die körperlich und seelisch am stärksten waren.« Jean Cler, ein Oberst der Zuaven, sprach ebenfalls von erfahrenen Kämpfern, die »plötzlich verrückt wurden« und zu den Russen überliefen oder sich aus Verzweiflung erschossen. Selbstmorde werden von etlichen Memoirenschreibern erwähnt. Einer nannte das Beispiel eines Zuaven, »eines Veteranen unserer afrikanischen Kriege«, der in guter Verfassung zu sein schien, bis er eines Tages, neben seinem Zelt sitzend und Kaffee mit seinen Kameraden trinkend, erklärte, er habe genug; dann ergriff er sein Gewehr, ging davon und schoss sich eine Kugel in den Kopf. 5
Der Verlust von Kameraden war eine der größten Belastungen für die Soldaten. Doch über solche Dinge äußerten Männer sich selten, selbst in der britischen Armee, wo Briefe in die Heimat kaum zensiert wurden. Man erwartete, dass Soldaten den Tod in der Schlacht stoisch hinnahmen, und vielleicht war diese Haltung erforderlich, um zu überleben. Hinter den Bekundungen von Trauer über den Verlust von Freunden verbergen sich aber möglicherweise tiefere und beunruhigendere Emotionen, als sie die Verfasser zum Ausdruck bringen wollten. So war Michel Gilbert überrascht über die Sorge und Reue, die sein Offizierskamerad Henri Loizillon am 19. Juni in einem Brief an seine Angehörigen erkennen ließ. Der Brief, ein Teil von Loizillons veröffentlichter Korrespondenz, enthielt eine lange Namensliste der Soldaten, die am Vortag beim Angriff auf den Malachow gefallen waren, und Gilbert kommentierte, man spüre, »wie sehr seine [Loizillons] Seele vom Atem des Todes ( souffle de la mort ) verfolgt wird. Die Liste der Namen setzt sich immer weiter fort, erfüllt von endloser Verzweiflung über Freunde, die verschwanden, mit den Namen von Offizieren, die getötet wurden.« Loizillon schien von Kummer und Schuldgefühlen verzehrt zu werden (weil er überlebt hatte), und erst in den letzten launigen Zeilen seines Briefes, in denen er die erfolglosen Gebete eines Kameraden beschreibt, »tauchte [sein] kraftvoller Selbsterhaltungstrieb wieder auf«:
Mein armer Freund Conegliano [schrieb Loizillon] ließ mich wissen, als wir zum Angriff aufbrachen (er ist sehr religiös): »Ich habe meinen Rosenkranz mitgebracht, der vom Papst gesegnet worden ist. Außerdem habe ich ein Dutzend Gebete für den General [Mayran], ein Dutzend für meinen Bruder und auch für dich gesprochen.« Armer Junge! Von diesen drei Männern war ich der Einzige, den seine Gebete zu retten halfen. 6
Abgesehen davon, dass sie Zeugen so vieler Todesfälle wurden, müssen die Soldaten in den Schützengräben von dem horrenden Ausmaß und der Art der Verwundungen, die alle Armeen bei der Belagerung davontrugen, erschüttert gewesen sein. Bis zum Ersten Weltkrieg sollte der menschliche Körper keine derart schlimmen Verletzungen erfahren wie während der Kämpfe bei Sewastopol. Technische Verbesserungen der Geschütze und Gewehre führten zu viel schwereren Wunden als denen, welche die Soldaten der Napoleonischen Kriege und der Algerienkriege erlitten hatten. Die moderne verlängerte, kegelförmige Gewehrkugel hatte eine viel höhere Durchschlagskraft als die alte runde Kugel und war zudem schwerer. Ungebremst durchfuhr sie den Körper und brach alle Knochen, die ihr in den Weg gerieten, während die leichtere runde Kugel meistens von ihrer Bahn abgelenkt wurde, ohne einen Knochen zu beschädigen. Zu Beginn der Belagerung benutzten die Russen eine kegelförmige, 50 Gramm wiegende Kugel, doch vom Frühjahr 1855 an verwendeten sie größere und schwerere Gewehrkugeln, die 5 Zentimeter lang waren und doppelt so viel wogen wie die britischen und französischen Geschosse. Wenn diese neuen Kugeln menschliche Weichteile trafen, hinterließen sie ein größeres Loch, das weiterhin heilen konnte, doch wenn sie auf Knochen prallten, wurden diese
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