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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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und Transportsysteme ermöglichten es der Artillerie, bis zu 75 000 Salven pro Tag abzugeben. 10 Dies war eine neue Form der industriellen Kriegführung, der Russland mit seiner rückständigen Leibeigenenwirtschaft nichts Gleichwertiges entgegensetzen konnte.
    Die Moral der Truppe sank auf einen gefährlichen Tiefpunkt. Im Juni verloren die Russen ihre beiden vorbildhaften Führer in Sewastopol: Totleben wurde während des Beschusses vom 22. Juni schwer verwundet und musste in den Ruhestand treten; und sechs Tage später traf eine Kugel Nachimow ins Gesicht, während er die Batterien am Redan inspizierte. Man brachte ihn in sein Quartier, wo er zwei Tage im Koma lag und am 30. Juni starb. An seiner feierlichen Beerdigung nahm die gesamte Stadtbevölkerung teil, und die Alliierten stellten ihr Bombardement ein, um zuzuschauen, wie der Leichenzug unter ihnen an den Stadtmauern vorbeischritt. »Ich finde keine Worte, um Euch die tiefe Trauer der Beerdigung zu beschreiben«, berichtete eine Sewastopoler Krankenschwester ihren Angehörigen.
    Das Meer mit der großen Flotte unserer Feinde, die Hügel mit unseren Bastionen, wo Nachimow seine Tage und Nächte verbrachte – all das bedeutete mehr, als sich durch Worte ausdrücken lässt. Von den Hügeln, von denen seine Batterien Sewastopol bedrohen, konnte der Feind den Leichenzug sehen und direkt beschießen. Doch sogar seine Kanonen bewahrten respektvolles Schweigen, und keine einzige Kugel wurde während des Gottesdienstes abgefeuert. Stellt Euch das Bild vor – und vor allem die dunklen Sturmwolken, die sich der Trauermusik, dem betrübten Läuten der Glocken und den Klagegesängen anpassten. So bestatteten die Matrosen ihren Helden von Sinope, so bettete Sewastopol seinen furchtlosen und heroischen Verteidiger zur Ruhe. 11
    Ende Juni war die Situation in Sewastopol so hoffnungslos geworden – nicht nur die Munitions-, sondern auch die Lebensmittel- und Wasservorräte wurden gefährlich knapp – , dass Gortschakow die Räumung der Stadt vorzubereiten begann. Ein großer Teil der Bevölkerung war bereits aufgebrochen – aus Angst, zu verhungern oder von Cholera oder Typhus, die in den Sommermonaten zu Epidemien wurden, dahingerafft zu werden. Ein Sonderausschuss zur Seuchenbekämpfung in Sewastopol meldete im Juni täglich 30 Todesfälle allein durch Cholera. Die meisten der Zurückgebliebenen hatten ihre ausgebombten Häuser längst verlassen und Zuflucht in Fort Nikolaus, am anderen Ende der Stadt neben dem Eingang zum Seehafen, suchen müssen; dort waren die Hauptkaserne, die Büros und Läden von den Festungsmauern umschlossen. Andere fanden eine sicherere Bleibe an der Nordseite. »Sewastopol begann einem Friedhof zu ähneln«, berichtete der Artillerieoffizier Jerschow.
    Mit jedem Tag wurden sogar seine Hauptstraßen immer leerer und düsterer – es sah aus wie eine Stadt, die von einem Erdbeben zerstört worden war. Die Jekaterinskaja, im Mai noch eine lebhafte und hübsche Durchgangsstraße, war nun, im Juli, verlassen und verwüstet. Weder dort noch auf dem Boulevard sah man ein weibliches Gesicht oder überhaupt jemanden, der einfach spazieren ging; nur ernste Gruppen von Soldaten … Jedes Gesicht trug den gleichen traurigen Ausdruck der Müdigkeit und der bangen Ahnung. Es hatte keinen Zweck, in die Stadt zu gehen, denn nirgendwo hörte man den Klang von Freude, nirgends fand man irgendeine Unterhaltung.
    In Tolstois »Sewastopol im August«, einer auf wahren Ereignissen und Gestalten basierenden Geschichte, erkundigt sich ein Soldat am Fluss Belbek bei einem Kameraden, der gerade aus der belagerten Stadt gekommen ist, ob sein Quartier noch unzerstört sei. »Ach wo, mein Lieber!«, erwidert der andere. »Das ganze Haus ist längst von Bomben zertrümmert. Sie werden Sewastopol nicht wiedererkennen; Frauen sind überhaupt nicht mehr da, keine Musik, keine Restaurants gibt es mehr – das letzte ist gestern weggezogen. Es ist jetzt furchtbar trübselig geworden.« 12
    Nicht nur Zivilisten ließen Sewastopol im Stich. Auch Soldaten desertierten während der Sommermonate in immer größerer Zahl. Diejenigen, die zu den Alliierten überliefen, behaupteten, Desertion sei ein Massenphänomen, und dies wird durch die fragmentarischen Angaben der russischen Militärbehörden bestätigt. Zum Beispiel hieß es in einem Bericht vom August, dass sich die Zahl der Desertionen seit Juni »drastisch erhöht« habe, besonders unter den Reservisten, die zur Krim

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