Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
Bruder auf den russischen Thron folgte. Groß und imposant, mit kahl werdendem Schädel, langen Koteletten und einem Offiziersschnurrbart, war Nikolaus I. durch und durch Soldat. Schon in jungem Alter hatte er ein zwanghaftes Interesse an militärischen Dingen entwickelt: Er lernte die Namen sämtlicher Generale seines Bruders auswendig, entwarf Uniformen und nahm begeistert an Paraden und Manövern teil. Da ihm sein Jugendtraum, im Krieg gegen Napoleon zu kämpfen, versagt geblieben war, bereitete er sich auf ein späteres Soldatenleben vor. Im Jahr 1817 erhielt er seinen ersten Posten, Generalinspekteur der Pioniere, bei dem er ein lebenslanges Interesse an Militärtechnik und Artillerie entwickelte (dies waren die stärksten Elemente des russischen Militärs im Krimkrieg). Er liebte die Bräuche und die Disziplin des Armeelebens, denn sie entsprachen seinem strikten, pedantischen Wesen und seinem spartanischen Geschmack (sein Leben lang schlief er auf einem Feldbett). Höflich und charmant gegenüber seinem engsten Umfeld, war Nikolaus im Umgang mit anderen kalt und abweisend. Im späteren Leben wurde er immer reizbarer und ungeduldiger, neigte zu überstürztem Handeln und Wutanfällen, während er von der psychischen Erbkrankheit übermannt wurde, die schon Alexander und seinen älteren Bruder, den Großfürsten Konstantin, getroffen hatte (Letzterer verzichtete 1825 auf den Thron). 14
In höherem Maße als Alexander stellte Nikolaus die Verteidigung der Orthodoxie ins Zentrum seiner Außenpolitik. Während seiner gesamten Herrschaft ließ er sich von dem absoluten Glauben an seine göttliche Mission leiten, das orthodoxe Europa vor den westlichen Häresien des Liberalismus, Rationalismus und der Revolution retten zu müssen. In seinen letzten Jahren hegte er den fantastischen Traum, einen Religionskrieg gegen die Türken zu führen, um die Balkanchristen zu befreien und sie mit den Russen in einem orthodoxen Reich zu vereinen, dessen geistliche Zentren in Konstantinopel und Jerusalem liegen sollten. Anna Tjutschewa, die sich seit 1853 an Nikolaus’ Hof aufhielt, beschrieb ihn als »den Don Quixote der Autokraten – schrecklich in seiner Ritterlichkeit und seinem energischen Streben, alles seinem nichtigen Kampf gegen die Geschichte unterzuordnen«. 15
Nikolaus hatte durch das Kloster Neu-Jerusalem bei Moskau eine persönliche Beziehung zum Heiligen Land. Das Kloster, 1656 von dem Patriarchen Nikon gegründet, befand sich an einem Ort, den man wegen seiner symbolischen Ähnlichkeit mit dem Heiligen Land ausgewählt hatte (wobei der Fluss Istra den Jordan darstellte). Das Ensemble der Klosterkirchen war in einem topografischen Arrangement angelegt, das die heiligen Stätten Jerusalems repräsentierte. Zudem nahm Nikon ausländische Mönche auf, damit das Kloster die multinationale Orthodoxie, die Moskau mit Jerusalem verband, versinnbildlichen konnte. Nikolaus hatte das Kloster im Jahr 1818 besucht, dem Geburtsjahr seines ersten Sohnes, des Thronerben (ein zeitliches Zusammentreffen, das er als Zeichen göttlicher Vorsehung deutete). Nachdem das Kloster durch ein Feuer teilweise zerstört worden war, ließ Nikolaus Entwürfe anfertigen, welche die Rekonstruktion des Kernstücks, der Auferstehungskathedrale, als Nachbildung der Kirche vom Heiligen Grab in Jerusalem, vorsahen. Er schickte sogar einen Künstler auf eine Pilgerreise, der Zeichnungen des Originals herstellte, damit es auf russischem Boden nachgebaut werden konnte. 16
Keine von Nikolaus’ religiösen Ambitionen war 1825 bereits unmittelbar zu erkennen. Vielmehr entwickelten sich seine Ansichten erst ganz allmählich – von den ersten Jahren seiner Herrschaft, als er die legitimistischen Prinzipien der Heiligen Allianz aufrechterhielt, bis hin zu ihrer Endphase vor dem Krimkrieg, als er die Verfechtung der Orthodoxie zum Hauptziel seiner aggressiven Außenpolitik auf dem Balkan und im Heiligen Land machte. Gleichwohl gab es von Beginn an klare Anzeichen dafür, dass er entschlossen war, seine Glaubensgenossen zu verteidigen und, beginnend mit dem Kampf um Griechenland, eine unnachgiebige Position gegenüber der Türkei einzunehmen.
Nikolaus erneuerte die Beziehungen zu Kapodistrias, dessen aktiver Einsatz für die griechische Sache ihn 1822 gezwungen hatte, als Außenminister zurückzutreten und sich ins Exil zu begeben. Der Zar drohte den Türken mit Krieg, falls sie die Donaufürstentümer nicht räumten, und billigte die Vorschläge seiner
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