Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
Vom Netzwerk:
Weg für einen Angriff auf die türkischen Gebiete in Anatolien frei war. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches schien so nahe zu sein, dass der französische König Karl X. vorschlug, seine Territorien unter den Großmächten aufzuteilen. 20
    Auch Nikolaus war von dem bevorstehenden Kollaps des Osmanischen Reiches überzeugt. Ihm lag daran, den Untergang des Reiches zu beschleunigen und die Balkanchristen zu befreien, vorausgesetzt, er konnte die anderen Mächte – oder zumindest Österreich (seinen engsten Verbündeten mit Interessen auf dem Balkan) – von seinem Standpunkt überzeugen. Während seine Soldaten auf die türkische Hauptstadt vorrückten, teilte Nikolaus dem österreichischen Botschafter in St. Petersburg mit, dass das Osmanische Reich »sehr bald fallen« werde. Für Österreich sei es von Nutzen, sich die osmanischen Gebiete mit Russland zu teilen, um »denen zuvorzukommen, die das Vakuum füllen möchten«. Die Österreicher aber misstrauten Russland und entschieden sich, das Europäische Konzert aufrechtzuerhalten. Ohne ihre Unterstützung verzichtete Nikolaus 1829 darauf, dem Osmanischen Reich den tödlichen Schlag zu versetzen. Er fürchtete einen europäischen Krieg gegen Russland, falls sein Angriff auf die Türkei die anderen Mächte bewog, sich zu deren Verteidigung zusammenzuschließen; und sogar noch mehr fürchtete er, dass der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches einen hektischen Wettlauf der europäischen Mächte zur Übernahme türkischer Territorien auslösen würde. In beiden Fällen hätte Russland den Kürzeren gezogen. Aus diesem Grund hielt sich Nikolaus an den Rat seines kühlen, berechnenden Außenministers: Den russischen Interessen sei am besten damit gedient, das Osmanische Reich am Leben zu erhalten, freilich in einem geschwächten Zustand, denn seine Abhängigkeit von Russland würde dessen Belangen auf dem Balkan und im Schwarzmeergebiet zustattenkommen. Eine kranke Türkei sei nützlicher für Russland als eine tote. 21
    Infolgedessen erwies sich der Vertrag von Konstantinopel als überraschend milde für die besiegten Türken. Von den Russen im September 1829 durchgesetzt, begründete der Vertrag die faktische Autonomie der Moldau und der Walachei unter russischer Schutzherrschaft. Die Russen erhielten mehrere Inseln an der Donaumündung, eine Reihe von Festungen in Georgien sowie die Anerkennung des Sultans, was ihren Besitz des übrigen Georgien und der südkaukasischen Khanate Jerewan und Nachitschewan betraf, die sie den Persern 1828 abgerungen hatten. Doch verglichen mit dem, was die Russen den besiegten Türken hätten abpressen können, waren dies relativ unbedeutende Gewinne. Die beiden wichtigsten Klauseln des Vertrags liefen auf Zugeständnisse der Hohen Pforte hinaus, die sämtliche Unterzeichner des Vertrags von London ersehnt hatten: Die Türkei erkannte die Unabhängigkeit Griechenlands an, und der Bosporus wurde für alle Handelsschiffe geöffnet.
    Die Westmächte trauten diesem Anschein russischer Mäßigung jedoch nicht. Das Schweigen des Vertrags über die Durchfahrt von Kriegsschiffen durch die Meerengen führte sie zu dem Schluss, dass Russland im Besitz einer Geheimklausel oder eines mündlichen Versprechens der Türken sein musste, durch die ihm die ausschließliche Kontrolle über diesen so bedeutenden Wasserweg zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer eingeräumt wurde. Die Ängste des Westens vor Russland waren seit dem Ausbruch der griechischen Rebellion gewachsen, und der Vertrag nährte diese Russophobie. Die Briten waren besonders beunruhigt. Wellington, inzwischen Premierminister, meinte, das Osmanische Reich sei durch den Vertrag zu einem russischen Protektorat geworden – ein schlechteres Ergebnis als seine Teilung (die wenigstens durch mehrere Großmächte vorgenommen worden wäre). Lord Heytesbury, der britische Botschafter in St. Petersburg, erklärte (ohne jede bewusste Ironie), der Sultan werde »die Befehle des Zaren« bald »so gehorsam befolgen wie ein indischer Prinz diejenigen der [Ostindien-]Gesellschaft«. 22 Die Briten mochten das Mogulreich in Indien einst völlig verdrängt haben, doch sie waren entschlossen, die Russen daran zu hindern, das Gleiche mit den Osmanen zu tun. Folglich gaben sie sich als ehrliche Verteidiger des Status quo im Vorderen Orient aus.
    Angesichts des als Bedrohung empfundenen russischen Vorgehens entwickelten die Briten eine neue Taktik gegenüber der Orientalischen Frage. Damit

Weitere Kostenlose Bücher