Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
regierende Elite räumte den Bankrott von Nikolaus’ System ein. »Mein Gott, so viele Opfer « , schrieb der zaristische Zensor Alexander Nikitenko in seinem Tagebuch. »All das auf Geheiß eines rasenden Willens, trunken vor absoluter Macht und Arroganz … Wir haben nicht zwei, sondern dreißig Jahre Krieg geführt, eine Armee von einer Million Mann unterhalten und Europa ständig bedroht. Was war der Zweck von alledem? Welchen Gewinn, welchen Ruhm hat Russland daraus bezogen ?« Einige Jahre zuvor, sinnierte Nikitenko, hätten die Panslawisten in Moskau gepredigt, dass der Westen im Niedergang sei und dass eine neue slawische Zivilisation unter russischer Führung an seine Stelle treten werde. »Und nun hat Europa uns unsere Ignoranz und Apathie aufgezeigt, unsere arrogante Verachtung für seine Kultur und wie verfallen Russland in Wirklichkeit ist. Oh, was sind wir doch für arme Wesen !« 35
Eine der Stimmen, die nach Reform riefen, gehörte Tolstoi, dem die Sewastopoler Erzählungen zu literarischem Ruhm verholfen hatten. Tolstois Erfahrung des Krimkriegs prägte seine Vorstellungen von Leben und Literatur. Er hatte die Unfähigkeit und Bestechlichkeit vieler Offiziere aus unmittelbarer Nähe beobachten können, ebenso wie ihre oftmals brutale Behandlung der gewöhnlichen Soldaten und Matrosen, deren Mut und Widerstandskraft ihn fasziniert hatten. In seinem Feldtagebuch hatte er daraufhin seine Ideen für radikale Reformen erstmals entwickelt und geschworen, die Ungerechtigkeit mit seiner Feder zu bekämpfen. Auf seiner Reise von Odessa nach Sewastopol im November 1854 erzählte ihm ein Bootsführer »von der Überfahrt der Soldaten: Ein Soldat legte sich während eines Wolkenbruchs auf die nassen Bootsplanken und schlief ein. Ein Offizier schlug einen Soldaten, weil der sich kratzte, und ein Soldat erschoß sich auf der Überfahrt aus Angst, weil er sich um zwei Tage verspätet hatte und wurde dann ohne Totenzeremonie in das Flüßchen geworfen .« Der Kontrast zu der Art, wie gemeine Soldaten seiner Ansicht nach in den westlichen Armeen behandelt wurden und wie sie sich selbst einschätzten, ließ die Notwendigkeit des Wandels für ihn deutlich werden:
Habe französische und englische Gefangene gesehen, aber nicht länger mit ihnen sprechen können. Der bloße Anblick und der Gang dieser Leute flößten mir aus irgendeinem Grunde die traurige Erkenntnis ein, daß sie unseren Truppen weit überlegen sind. 36
Gemeine Soldaten in der französischen oder britischen Armee waren laut Tolstoi auch über die Politik und die Kunst auf dem Laufenden, was freilich zweifelhaft gewesen sein dürfte. Wie oftmals in der russischen Bewunderung für »den Westen « war auch in seiner Beurteilung ein Gutteil Naivität zu finden, doch solche Ideale beflügelten seinen reformistischen Eifer.
Nach dem Tod von Nikolaus I. verfasste Tolstoi einen »Plan für die Reformierung der Armee « und legte ihn Graf Osten-Sacken, dem Kommandeur der Garnison von Sewastopol, in der Hoffnung vor, dass dieser das Papier an den neuen Zaren Alexander weiterreichen werde, der angeblich humanere Maßnahmen befürwortete. Aufgrund dieses Gerüchts eröffnete Tolstoi seinen Vorschlag mit einer kühnen Grundsatzerklärung, die teils zutraf, doch schwerlich einen sachlichen Kommentar über die tapferen Verteidiger von Sewastopol darstellte:
Mein Gewissen und mein Gerechtigkeitsgefühl verbieten mir, angesichts des Übels zu schweigen, das offen vor mir begangen wird. Es verursacht den Tod von Millionen, mindert unsere Kraft und schwächt die Ehre unseres Landes … Wir haben keine Armee, sondern eine Horde von Sklaven, die durch Disziplin eingeschüchtert, von Dieben und Sklavenhändlern herumkommandiert wird. Diese Horde ist keine Armee, weil sie keine wirkliche Loyalität gegenüber dem Glauben, dem Zaren und dem Vaterland – Worte, die so oft missbraucht worden sind! – noch Mut noch militärische Würde besitzt. Sie besitzt nichts anderes als einerseits passive Geduld und unterdrückte Unzufriedenheit und andererseits Brutalität, Unterwürfigkeit und Korruption.
Tolstoi verurteilte die schlechte Behandlung der leibeigenen Soldaten aufs Schärfste. In einer frühen Version seiner Vorschläge ging er so weit zu behaupten, dass in »jedem geprügelten Soldaten « ein »Gefühl der Rache « verborgen sei; dieses Gefühl, »zu unterdrückt, um zurzeit als reale Kraft zu erscheinen « , warte nur darauf hervorzubrechen (»und o Gott, welche
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