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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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Schrecken stehen unserer Gesellschaft bevor, wenn das geschehen sollte « ). Später strich er diesen aufrührerischen Satz, weil er befürchtete, dadurch seine reformistischen Ideen in Regierungskreisen im Keim zu ersticken. Tolstoi forderte, der körperlichen Züchtigung in der Armee ein Ende zu setzen, und machte die Misshandlung der Soldaten für das Versagen Russlands im Krimkrieg verantwortlich. Er legte Pläne für die Reform der Artillerie vor, die sich gegen die Minié-Gewehre als so ineffektiv erwiesen hatten. Im Zusammenhang mit seinen Ideen zur Verbesserung der Befehlshierarchie formulierte er eine vernichtende Kritik an den Offizieren auf der Krim: Diese seien grausam und korrupt gewesen, hätten sich hauptsächlich für die Details der Uniformen und des Drills interessiert und nur deshalb in der Armee gedient, weil sie zu nichts anderem taugten. Doch wiederum strich er eine brisante Passage – in der er erklärt hatte, die Oberbefehlshaber seien lediglich Höflinge, die der Zar nicht wegen ihrer Kompetenz, sondern wegen seiner persönlichen Sympathie für sie ausgewählt habe – , um die Chancen, seinen Ideen Gehör zu verschaffen, nicht zu schmälern. Ohnehin munkelte man bereits, er sei der anonyme Autor eines satirischen Armeeliedes, in dem die Niederlagen im Krimkrieg auf die Unfähigkeit der Offiziere mit den größten Epauletten zurückgeführt wurden. Diese Ballade kursierte weithin in der Armee und in der Gesellschaft und brachte Tolstoi, dem mutmaßlichen Autor, einen Verweis durch Großfürst Michail Nikolajewitsch ein, den Bruder des Zaren, der meinte, dass sich die Verse schädlich auf die Moral der Soldaten auswirkten. *** Wiewohl Tolstois Urheberschaft nie bewiesen wurde, versagte man ihm die Beförderung über den Leutnantsrang hinaus, den er bereits vor seiner Ankunft in Sewastopol bekleidet hatte. 37
    Tolstois Erfahrung im Krimkrieg hatte ihn veranlasst, mehr als nur das Militärsystem in Frage zu stellen. Der Dichter Afanassi Fet, der ihm im Winter 1855 in Turgenjews Wohnung begegnete, war erstaunt über die »automatische Opposition « des jungen Mannes »gegen alle etablierten Meinungen « . Das enge Zusammenleben mit den einfachen Soldaten auf der Krim hatte Tolstoi die Augen für die schlichten Tugenden des Bauerntums geöffnet; nun machte er sich auf die rastlose Suche nach einer neuen Wahrheit, nach einem Weg, als russischer Adliger und Gutsbesitzer trotz der Ungerechtigkeiten der Leibeigenschaft ein moralisches Leben zu führen. Diese Themen hatte er schon in seiner Erzählung Der Morgen eines Gutsbesitzers (1856) berührt: Der Titelheld der Erzählung (womit Tolstoi selbst gemeint ist) strebt auf dem Lande nach einem Leben des Glücks und der Gerechtigkeit und erfährt, dass es nur in ständiger Arbeit für das Wohl anderer, weniger vom Schicksal Begünstigter zu finden sei. Schon früher hatte Tolstoi vorgeschlagen, die Abgaben der Leibeigenen auf seinem Gut in Jasnaja Poljana zu verringern, doch sie waren misstrauisch (da sie solche Mildtätigkeit nicht erwarteten) und lehnten sein Angebot ab.
    Erst auf der Krim jedoch verspürte Tolstoi eine enge Bindung an die Leibeigenen in Uniform – jene »einfachen und gütigen Männer, deren Großmut in einem wirklichen Krieg offensichtlich ist « . Er war angewidert von seiner früheren Existenz – dem Glücksspiel, der Hurerei, der Prasserei und Trinkerei, dem übermäßigen Reichtum und dem Mangel an jeder wirklichen Arbeit und jedem realen Lebensinhalt. Nach dem Krieg machte er sich mit neuer Energie daran, zusammen mit den Bauern »ein Leben der Wahrheit « zu führen. 38
    Zur Zeit von Tolstois Rückkehr lag ein neuer reformistischer Geist in der Luft. Die liberaleren und aufgeklärteren Adligen akzeptierten mittlerweile, dass sie ihre Leibeigenen freigeben mussten. Laut Sergej Wolkonski, dem berühmten Dekabristen und entfernten Verwandten Tolstois, der 1856 aus seinem sibirischen Exil entlassen wurde, war die Aufhebung der Leibeigenschaft »das wenigste, was der Staat tun konnte, um die Opfer der Bauern in den beiden letzten Kriegen anzuerkennen; es wird Zeit zu akzeptieren, dass der russische Bauer ebenfalls ein Bürger ist « . Den Bauernsoldaten, die im Krimkrieg gekämpft hatten, war der Eindruck vermittelt worden, dass ihre Befreiung bevorstand. Im Frühjahr 1854 waren Tausende von Bauern in den Rekrutierungsstätten erschienen, nachdem sie Gerüchte gehört hatten, wonach der Zar jedem Leibeigenen, der sich freiwillig

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