Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
Gegenwart löste tiefen Groll bei den Ministern des Sultans aus, die durch einen persönlichen Besuch des diktatorischen Botschafters in Angst und Schrecken versetzt werden konnten. Lokale Würdenträger und muslimische Geistliche waren nicht weniger zornig über seine Bemühungen im Namen der Christen und deuteten seine Einflussnahme als Verlust türkischer Souveränität. Diese Ablehnung ausländischer Interventionen – durch Großbritannien, Frankreich und Russland – sollte unmittelbar vor dem Krimkrieg eine wichtige Rolle in der türkischen Politik spielen.
* Nicht zu verwechseln mit Mehmet Ali, dem ägyptischen Herrscher.
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Die russische Bedrohung
Der niederländische Dampfer legte spät am Samstagabend, dem 1. Juni 1844, an den Docks von Woolwich an. Die einzigen Passagiere waren »Graf Orlow« – das Pseudonym von Zar Nikolaus – und seine Höflinge, die inkognito aus St. Petersburg angereist waren. Seit der brutalen Niederschlagung des polnischen Aufstands von 1831 fürchtete sich Nikolaus vor einem Anschlag polnischer Nationalisten, welche die russische Herrschaft in ihrer Heimat bekämpften. Aus diesem Grund begab er sich nur getarnt auf Reisen. In Großbritannien lebte eine große Gemeinde von Exilpolen, und seit dem Moment, da der Besuch im Januar mit der britischen Regierung erörtert worden war, machte man sich Sorgen um die Sicherheit des Zaren. Um seine persönliche Gefährdung zu verringern, hatte Nikolaus niemanden in seine Reisepläne eingeweiht. Die Kutschen des Zaren rasten, nur mit einem kurzen Aufenthalt in Berlin, über den Kontinent hinweg, ohne dass jemand in Großbritannien von seiner bevorstehenden Ankunft erfuhr, bis er am 30. Mai, weniger als zwei Tage vor seiner Landung in Woolwich, in Hamburg an Bord des Dampfers ging.
Nicht einmal Baron Brunow, der russische Botschafter in London, kannte die genauen Einzelheiten der Reiseroute seines Monarchen. Da er nicht wusste, wann der Dampfer eintreffen würde, verbrachte Brunow den ganzen Samstag an den Docks von Woolwich. Schließlich, um 22 Uhr, lief das Schiff ein. Der Zar – kaum zu erkennen in einem grauen Mantel, den er seit dem türkischen Feldzug von 1828 trug – ging von Bord und fuhr eilig mit Brunow zur russischen Botschaft in Ashburnham House in Westminster. Trotz der späten Stunde schickte er dem Prinzgemahl ein kurzes Schreiben, in dem er um ein baldmögliches Treffen mit der Königin ersuchte. Daran gewöhnt, seine Minister zu jeder Tages- und Nachtstunde herbeizurufen, war er nicht auf den Gedanken gekommen, dass es unhöflich sein könne, Prinz Albert in den frühen Morgenstunden zu wecken. 1
Es war nicht die erste Reise des Zaren nach London. Er hegte angenehme Erinnerungen an seinen früheren Besuch im Jahr 1816. Damals, als Zwanzigjähriger und noch Großfürst, hatte er großen Erfolg bei der weiblichen Hälfte der englischen Aristokratie gehabt. Lady Charlotte Campbell, eine berühmte Schönheit und Hofdame der Prinzessin von Wales, hatte erklärt: »What an amiable creature! He is devilish handsome! He will be the handsomest man in Europe.« Jene Reise hatte Nikolaus den Eindruck vermittelt, einen Verbündeten in der englischen Monarchie und Aristokratie zu haben. Als despotischer Herrscher des größten Staates der Welt hatte Nikolaus wenig Verständnis für die Beschränkungen einer konstitutionellen Monarchie. Er erwartete, dass er Fragen der Außenpolitik in Großbritannien direkt mit der Königin und ihren höchsten Ministern entscheiden könne. Es sei »eine ausgezeichnete Sache«, erklärte er Viktoria bei ihrem ersten Treffen, »sich hin und wieder mit eigenen Augen zu überzeugen, denn es genügt nicht immer, ausschließlich Diplomaten zu vertrauen«. Solche Begegnungen schüfen »ein Gefühl der Freundschaft und des Interesses« zwischen regierenden Souveränen, und man könne »in einem einzigen Gespräch« mehr erreichen, »um seine Empfindungen, Ansichten und Motive deutlich zu machen, als in einer Vielzahl von Botschaften und Briefen«. Der Zar glaubte, ein »Gentlemen’s Agreement« mit Großbritannien darüber abschließen zu können, wie mit dem Osmanischen Reich im Fall seines Zusammenbruchs umzugehen sei. 2
Nikolaus hatte bereits mehrere Versuche unternommen, eine andere Großmacht von seinen Teilungsplänen für das Osmanische Reich zu überzeugen. Im Jahr 1829 hatte er den Österreichern eine bilaterale Teilung der osmanischen Gebiete in Europa vorgeschlagen, um dem Chaos zuvorzukommen,
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