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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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der Erlass voraus, dass es für das Gemeinwesen nützlich sein werde, den dynamischsten Elementen des Reiches Garantien persönlicher Freiheit zu erteilen, nämlich den nichtmuslimischen Millets, deren ungerechte Behandlung durch die muslimische Mehrheit Instabilität geschaffen habe. 40
    Inwieweit der Erlass durch den Wunsch motiviert wurde, in einer Zeit der Krise britische Unterstützung für das Osmanische Reich zu gewinnen, ist strittig. Gewiss enthielt die liberale Sprache des Hatt-i Scherif, dessen Endfassung auch dem britischen Botschafter Ponsonby einiges zu verdanken hatte, ein Element englischer Schönfärberei. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Hatt-i Scherif unaufrichtig gewesen wäre – ein widerwilliges Zugeständnis als taktischer Trick zur Sicherung britischer Hilfe. Den Kern des Erlasses bildete vielmehr ein ehrlicher Glaube an die Notwendigkeit, das Osmanische Reich zu modernisieren. Reschid und seine Anhänger vertraten die Überzeugung, dass zur Rettung des Reiches letzten Endes ein neues weltliches Konzept der imperialen Einheit (Osmanismus) erforderlich sei, das auf der Gleichheit aller Untertanen des Sultans, unabhängig von ihrer Religion, basieren müsse. Es war charakteristisch für den Ernst, mit dem die Reformer an ihre Aufgabe herangingen, sowie ein Zeichen für ihr Bemühen, die potenzielle Opposition der Konservativen zu dämpfen, dass die Zugeständnisse des Hatt-i Scherif in Formulierungen gekleidet waren, welche die Verteidigung der islamischen Traditionen sowie die Gebote des »glorreichen Korans« herausstellten. Tatsächlich unterhielten der Sultan und viele seiner bekanntesten reformistischen Minister, darunter Mustafa Reschid und Mehmet Hüsrev, Großwesir von 1839 bis 1841, enge Kontakte zu den Naqschbandi-Logen ( tekkes ), wo die Lehren des islamischen Gesetzes nachdrücklich gepredigt wurden. In vieler Hinsicht standen die Tanzimat-Reformen für den Versuch, einen stärker zentralisierten, doch toleranteren islamischen Staat zu erschaffen. 41
    Die osmanische Regierung unternahm jedoch sehr wenig, um ihre erhabenen Erklärungen zu realisieren. Das Haupthindernis war ihr Versprechen, die Situation der christlichen Bevölkerung zu verbessern, denn dies führte zu Widerstand seitens des traditionsbewussten muslimischen Klerus und der Konservativen. Es kam nur zu geringfügigen Verbesserungen. 1844 schaffte der Sultan die Todesstrafe für Apostasie ab, doch eine kleine Anzahl von Muslimen, die zum Christentum übergetreten waren (und von Christen, die ihre Bekehrung zum Islam rückgängig gemacht hatten), wurde weiterhin auf Anordnung der örtlichen Statthalter hingerichtet. Blasphemie unterlag wie früher der Todesstrafe. Christen wurden von manchen Militärakademien aufgenommen und unterlagen der Wehrpflicht; weil sie aber nicht damit rechnen durften, in höhere Ränge befördert zu werden, entschieden sich die meisten, eine Sondersteuer für die Befreiung vom Wehrdienst zu zahlen. Seit Ende der vierziger Jahre durften Christen Mitglied der Provinzräte werden, welche die Arbeit der Gouverneure überprüften. Außerdem saßen sie nun als Geschworene neben Muslimen in den Handelsgerichten, wo westliche juristische Prinzipien großzügig angewandt wurden. Doch sonst änderte sich kaum etwas. Der Sklavenhandel bestand weiterhin; dabei wurden vorwiegend christliche Jungen und Mädchen aus dem Kaukasus gefangen genommen und in Konstantinopel verkauft. Die Türken betrachteten die Christen nach wie vor als minderwertig und meinten, dass die muslimischen Privilegien beibehalten werden sollten. Die informellen Regeln und Praktiken der Verwaltung, wenn auch nicht die schriftlich niedergelegten Gesetze, sorgten dafür, dass man die Christen immer noch als Bürger zweiter Klasse behandelte, obwohl diese sich rasch zur dominierenden Wirtschaftsgruppe im Osmanischen Reich entwickelten. Dadurch lösten sie verstärkt Spannung und Neid aus, besonders wenn sie die Steuerpflicht dadurch umgingen, dass sie ausländische Pässe und Protektion erwarben.
    Stratford Canning, der 1842 zum dritten Mal als Botschafter in Konstantinopel antrat, wurde immer skeptischer, was die Aussichten der Reform anging. Der Sultan war zu jung und Reschid zu schwach, um den Konservativen standzuhalten, die nach und nach die Oberhand im Rat (Diwan) der Hohen Pforte über die Reformer gewannen. Die Reformpläne wurden zunehmend durch persönliche Rivalitäten behindert, vor allem zwischen Reschid und Mehmet Ali

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