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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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Canning nur begrenzte Kenntnisse der Türkei. Er sprach nicht Türkisch, unternahm kaum Reisen durch das Land und verbrachte den Großteil seiner Zeit in der Abgeschiedenheit der britischen Botschaft in Pera oder auf seinem Sommerwohnsitz in Tarabya. Stratford glaubte nicht, dass die alten türkischen Institutionen modernisiert werden könnten, und er brachte dem Islam keine Sympathie oder auch nur Verständnis entgegen. Seiner Ansicht nach bestand die einzige Hoffnung für die Türkei darin, dass sie völlig von der europäischen Kultur – zumal von der christlichen Kultur – durchdrungen wurde. Nichts anderes könne sie vor dem religiösen Obskurantismus retten und sie auf den Weg zur Rationalität und Aufklärung bringen. Auch er wurde durch die aufkommenden westlichen Merkmale der Bekleidung und der Manieren ermutigt, die er 1832 in seiner zweiten Amtszeit als Botschafter wahrnahm. Dadurch ließ er sich überzeugen, dass die Türken wenn nicht vervollkommnungs-, so doch wenigstens verbesserungsfähig seien. »Die Türken haben seit meinem letzten Aufenthalt hier eine vollständige Metamorphose durchgemacht, jedenfalls hinsichtlich ihrer Tracht«, schrieb er Palmerston.
    Sie befinden sich nun in einem Zwischenstadium zwischen Turbanen und Hüten, zwischen Röcken und Reithosen. Wie weit diese Änderungen auch unter der Oberfläche wirksam sind, wage ich nicht zu sagen. Ich kenne keinen denkbaren Ersatz außer der Zivilisation im Sinne des Christentums. Kann der Sultan dies erreichen? Ich hege Zweifel. Jedenfalls dürfte es ein schwerer und langsamer, wenn nicht gar ein undurchführbarer Prozess werden. 38
    Im folgenden Vierteljahrhundert belehrte Stratford den Sultan in Abständen und unterrichtete dessen reformistische Minister darüber, wie die Türkei nach englischem Vorbild zu liberalisieren sei.
    Mustafa Reschid (1805–1858) war das perfekte Beispiel des europäischen Türken, der, wie Stratford Canning hoffte, im Vordergrund der osmanischen Reformen erscheinen würde. »Nach Geburt und Ausbildung ein Gentleman, seinem Wesen nach von freundlicher und liberaler Veranlagung, konnte Reschid meine Sympathien in höherem Maße für sich gewinnen als jeder andere seiner Rasse und Gesellschaftsschicht«, schrieb Stratford in seinen Memoiren. Reschid, ein kleiner, untersetzter Mann mit lebhaften, von einem schwarzen Bart umrahmten Zügen, hatte als Botschafter der Hohen Pforte in London und Paris gedient, wo er in französischen Theatern und Salons eine markante Figur abgab, bevor er 1837 Außenminister wurde. Er sprach gut Französisch und Englisch und unterhielt, wie viele türkische Reformer des 19. Jahrhunderts, Beziehungen zu den europäischen Freimaurern. In den dreißiger Jahren wurde Reschid von einer Londoner Loge aufgenommen. Der Flirt mit dem Freimaurertum bot westlich orientierten Türken wie ihm eine Möglichkeit, sich weltlichen Ideen zuzuwenden, ohne ihren muslimischen Glauben und ihre religiöse Identität aufgeben oder sich der Anklage des Abfalls vom Islam aussetzen zu müssen (dieses Verbrechen unterlag bis 1844 der Todesstrafe). Durch den Westen inspiriert, wollte Reschid das Osmanische Reich in eine moderne Monarchie umwandeln, in welcher der Sultan regieren, doch nicht herrschen würde, in der die Macht des Klerus begrenzt wäre und eine neue Kaste aufgeklärter Bürokraten die Geschäfte des imperialen Staats führen würde. 39
    Im Jahr 1839 gab der sechzehnjährige neue Sultan Abdülmecid einen Erlass heraus, den Hatt-i Scherif (Edles Handschreiben) von Gülhane, in dem die ersten einer Reihe von Erneuerungen, die Tanzimat-Reformen, bekanntgegeben wurden. Diese sollten sich über die gesamte Zeit seiner Herrschaft (1839–1861) hinziehen und 1876 schließlich zur Gründung des ersten osmanischen Parlaments führen. Der Erlass war das Werk von Reschid Pascha, der es in seiner Londoner Residenz am Bryanston Square aufgesetzt und Stratford Canning zu dessen persönlicher Billigung vorgelegt hatte, als er 1838 kurzfristig zum zweiten Mal als Botschafter in Großbritannien diente. Die englischen Werte der Magna Carta gehen eindeutig aus dem Wortlaut hervor. Der Hatt-i Scherif versprach allen im Reich Sicherheit des Lebens, Ehre und Eigentum, unabhängig von ihrem Glauben; er unterstrich die Herrschaft des Gesetzes, religiöse Toleranz, die Modernisierung der Institutionen des Reiches sowie ein gerechtes und rationales System der zentralisierten Besteuerung und der Wehrpflicht. Letztlich setzte

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