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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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dass ein Besuch des Zaren dazu beitragen werde, die Beziehungen zwischen den Herrscherhäusern des Kontinents zu verbessern. In ihrer Einladung an den Zaren hatte Viktoria erklärt, dass sie ihn Ende Mai oder Anfang Juni mit Freuden begrüßen werde, doch war kein Datum festgelegt worden. Mitte Mai stand immer noch nicht fest, ob Nikolaus kommen würde. Schließlich erfuhr die Königin erst wenige Stunden vor dem Eintreffen des Dampfers in Woolwich von seiner Ankunft. Ihre engeren Mitarbeiter gerieten in Panik, nicht zuletzt, weil man am selben Tag einen Besuch des Königs von Sachsen erwartete. Folglich wurden hastige, improvisierte Vorbereitungen für den Empfang des Zaren getroffen. 4
    Der spontane Besuch des Zaren war eines der vielen Anzeichen seiner wachsenden Unbedachtheit. Nach achtzehn Jahren auf dem Thron büßte er allmählich jene Eigenschaften ein, die seine frühe Herrschaft charakterisiert hatten: Vorsicht, Konservatismus und Zurückhaltung. Zunehmend im Bann jener psychischen Erbkrankheit, die schon Alexander in dessen letzten Jahren gequält hatte, wurde Nikolaus ungeduldig und impulsiv, was ihn zum Beispiel veranlasste, nach London zu eilen, um den Briten seinen Willen aufzuzwingen. Seine Unberechenbarkeit fiel Prinz Albert und der Königin auf, die ihrem Onkel Leopold schrieb: »Albert hält ihn für einen Mann, der dazu neigt, sich viel zu sehr von Impulsen und Gefühlen beeinflussen zu lassen, wodurch er häufig falsch handelt.« 5
    Am Tag nach seiner Ankunft empfing die Queen den Zaren im Buckingham Palace. Er kam mit den Herzogen von Cambridge, Wellington und Gloucester zusammen und besichtigte danach die modischen Straßen des Londoner Westend. Er inspizierte die Bauarbeiten an den Parlamentsgebäuden, die damals nach dem Brand von 1834 rekonstruiert wurden, und besuchte den gerade fertiggestellten Regent’s Park. Am Abend reiste die kaiserliche Gesellschaft mit dem Zug nach Windsor, wo sie sich in den folgenden fünf Tagen aufhielt. Nikolaus erstaunte die Dienerschaft durch seine spartanischen Gewohnheiten. Nachdem man seinen Kammerdienern das Schlafgemach des Zaren in Schloss Windsor gezeigt hatte, ließen sie als Erstes etwas Heu aus dem Stall herbeibringen, um damit den Ledersack auszustopfen, den der Herrscher stets als Matratze für sein Feldbett benutzte. 6
    Da die Königin hochschwanger war und die Sachsen-Coburgs um Prinz Alberts Vater trauerten, wurde kein königlicher Ball zu Ehren des Zaren abgehalten. Dafür gab es zahlreiche andere Vergnügungen: Jagdgesellschaften, Militärparaden, Ausflüge zu den Pferderennen in Ascot (wo man den Gold Cup zu Ehren von Nikolaus in Emperor’s Plate umbenannte * ), einen Abend mit der Königin in der Oper und ein glanzvolles Bankett, bei dem sechzig Gäste 53 Gerichte vertilgten, die auf dem Grand Service, der wohl erlesensten Sammlung vergoldeten Silbergeschirrs der Welt, aufgetischt wurden. An den beiden letzten Abenden fanden große Diners statt, zu denen die männlichen Gäste in Militäruniform erschienen. Dies entsprach den Wünschen des Zaren, der sich en frac unbehaglich fühlte und der Königin gegenüber zugab, dass es ihm peinlich sei, keine Uniform zu tragen. 7
    Als eine Art Charmeoffensive war der Besuch des Zaren ein großer Erfolg. Gesellschaftsdamen zeigten sich entzückt über sein gutes Aussehen und seine vorzüglichen Manieren. »Er ist immer noch ein großer Verehrer weiblicher Schönheit«, bemerkte Baron Stockmar. »Alle seine alten englischen Flammen behandelte er mit großer Aufmerksamkeit.« Auch die Königin erwärmte sich für ihn. Sie fand »seine Formen … höchst würdig und gefällig«, mochte seine Freundlichkeit Kindern gegenüber und respektierte seine Aufrichtigkeit, obwohl sie ihn als recht traurig einschätzte. »Er macht auf mich und Albert den Eindruck eines Menschen, der nicht glücklich ist und auf dem das Gewicht seiner ungeheuren Macht und Stellung schwer und drückend liegt«, teilte sie Leopold am 4. Juni mit. »Er lächelt selten, und tut er es, so ist sein Gesichtsausdruck nicht der eines Glücklichen.« Eine Woche später, am Ende der Reise, schrieb sie ihrem Onkel erneut und ließ ihm eine scharfsinnige Charakterstudie des Zaren zukommen:
    Er hat vieles an sich, was ich nicht umhin kann, gerne zu haben, und ich glaube, sein Charakter ist ein solcher, der erst verstanden sein muß. Er ist streng und ernst, mit eingewurzelten Grundsätzen über seine Pflicht, die nichts auf Erden ihn veranlassen

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