Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
Russen die Note so interpretierten, als könnten sie überall im Osmanischen Reich zum Schutz der Rechtgläubigen intervenieren – nicht nur in Gegenden, wo es, wie im Heiligen Land, zu einem spezifischen Konflikt gekommen war. Der Sultan regte ein paar kleinere Korrekturen der Note an. Es handelte sich um Floskeln, doch sie waren wichtig für eine Regierung, die aufgefordert wurde, die Note als Konzession an Russland zu unterzeichnen oder den Verlust von zwei ihrer reichsten Provinzen hinzunehmen. Außerdem wollte der Sultan, dass die Russen die Fürstentümer vor der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen räumten, und er bestand auf einer Garantie der vier Mächte, dass Russland sie nicht wieder überfallen werde. Es waren plausible Vorbehalte eines souveränen Staates, aber der Zar weigerte sich, die türkischen Änderungen zu akzeptieren, weil er selbst bereit gewesen sei, die Note in unveränderter Form zu unterzeichnen; sein Verdacht, dass Stratford Canning den Türken zugeredet hatte, sich querzustellen, spielte freilich ebenfalls eine Rolle. Anfang September rückten die vier Mächte widerwillig von der Wiener Note ab, und die Verhandlungen – die Türkei stand mittlerweile kurz davor, Russland den Krieg zu erklären – mussten neu begonnen werden. 36
Entgegen dem Verdacht des Zaren hatte Stratford Canning für die türkische Entscheidung, die Note abzulehnen, nur eine Nebenrolle gespielt. Der britische Botschafter war für seine grimmige Verteidigung der türkischen Souveränität und seinen Hass auf Russland gut bekannt, weshalb es nicht überraschte, dass er für die unerwartete Weigerung der Türken verantwortlich gemacht wurde, auf die ihnen von den Westmächten zur Beschwichtigung des Zaren auferlegte diplomatische Lösung einzugehen. Die Vorstellung, dass Stratford die Türken zu einem Krieg gegen Russland gedrängt habe, wurde später auch vom Foreign Office übernommen, das den Standpunkt vertrat, der Botschafter hätte die Türken wohl überreden können, die Note zu akzeptieren, wenn er korrekt vorgegangen wäre. Doch er habe sich dagegen entschieden, weil »er selbst nicht besser als ein Türke ist und dort so lange gewohnt hat und einen derartigen persönlichen Hass auf den [russischen] Kaiser empfindet, dass er vom türkischen Geist erfüllt ist; dies und sein Temperament haben ihn eine Rolle spielen lassen, die völlig im Gegensatz zu den Wünschen und Instruktionen seiner Regierung steht«. 37 Außenminister Lord George Clarendon blickte am 1. Oktober auf das Scheitern der Friedensverhandlungen zurück und gelangte zu dem Schluss, dass es besser gewesen wäre, einen gemäßigteren Mann als Stratford zum Botschafter in der türkischen Hauptstadt zu ernennen. Das betrügerische Spiel der Russen habe »all seine russischen Antipathien geweckt und ihn veranlasst, den Krieg als beste Lösung für die Türkei einzustufen. In Wirklichkeit hätte er keine Regelung für zufriedenstellend gehalten, durch die Russland nicht erniedrigt worden wäre.« 38 Aber das war unfair gegenüber Stratford, dem das Versagen der Regierung angelastet wurde. Allen Vermutungen zum Trotz tat er sein Bestes, um die Hohe Pforte dazu zu bewegen, die Note zu akzeptieren, doch sein Einfluss auf die Türken ließ in den Sommermonaten stetig nach, in denen Konstantinopel anhaltende Demonstrationen erlebte, deren Teilnehmer einen »heiligen Krieg« gegen Russland forderten.
Der Einmarsch in die Fürstentümer weckte in der osmanischen Hauptstadt gleichermaßen muslimische wie türkisch-nationalistische Gefühle. Die Hohe Pforte hatte die muslimische Bevölkerung gegen die Invasion aufgebracht, und nun konnte sie die sich anschließenden religiösen Emotionen nicht eindämmen. Die Sprache der Ulema in Konstantinopel wurde immer kriegerischer, denn sie redeten den Gläubigen ein, dass die Angreifer ihre Moscheen zerstören und an deren Stelle Kirchen bauen würden. Gleichzeitig ließ die Hohe Pforte die Öffentlichkeit über die Wiener Initiative im Dunkeln und behauptete, jeglicher Friede könne »allein von der Ehrfurcht des Zaren vor dem Sultan« ausgehen, was die nationalistischen Gefühle muslimischer Überlegenheit verstärkte. Gerüchte kursierten, wonach der Sultan die britische und die französische Flotte bezahle, für die Türkei zu kämpfen; Europa sei von Allah zur Verteidigung der Muslime erwählt worden, oder der Zar habe seine Gemahlin nach Konstantinopel entsandt, damit sie um Frieden bitte, und er wolle
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