Krishna-Zyklus 10 - Die Kontinente-Macher
Waffe nieder und drehte sich um. Schon das theoretische Studium eines Tsunami hatte ausgereicht, dass er keinen gesteigerten Wert darauf legte, jemals einem Exemplar davon in natura zu begegnen. Doch jetzt sah es ganz so aus, als sollte die Begegnung doch stattfinden, ob er nun wollte oder nicht.
Die Flutwelle hatte nicht die steile, zugespitzte Form eines Brechers. Es war eher so, als führe sie ganz langsam einen gewaltigen Berghang hinauf. Der Horizont, eben noch als blasser Lichtstreifen im Osten zu erkennen, schmolz ganz allmählich zu einem dünnen Strich zusammen und verschwand. Das Boot rackerte sich, immer langsamer werdend, noch ein Stück höher und schien plötzlich stehenzubleiben, obwohl der Motor mit unverminderter Kraft arbeitete. Der entblößte Meeresboden und der Strand schienen mit einem Mal nicht mehr hinter, sondern unter ihnen zu liegen, so als säßen sie in einem tieffliegenden Flugzeug. Die Vorderfront des Tsunami wölbte sich vor ihnen wie der gewaltige Buckel eines sanft geschwungenen Berges.
»Da, seht doch!« schrie Jeru-Bhetiru.
Sie waren jetzt auf gleicher Höhe mit dem Rand der Klippe und stiegen immer noch. Das Wasser, das eben noch von der Küste zurückgeflutet war, raste jetzt, einen gewaltigen Gischtwall vor sich herschiebend, über den entblößten Meeresboden auf den Strand zu. Und immer noch trug die Woge sie höher. Sie befanden sich jetzt oberhalb des höchsten Punktes der Nordhalbinsel und konnten die gegenüberliegende Küste erkennen. Zu ihrer Rechten sah Graham die Schildkrötenfarm von March. Im nächsten Augenblick donnerte schon die Flutwelle über sie hinweg und befreite die Tausende von Schildkröten aus ihren Gefängnissen. Der riesige Wasserberg trug sie jetzt mit beängstigender Geschwindigkeit zur Halbinsel zurück.
Am Strand sah man jetzt winzige Gestalten in wilder Flucht auf die Klippe zurennen und wie die Affen hinaufklettern. Die Gischtwelle raste über den Strand, donnerte, meterhoch aufspritzend, gegen die Klippenfront und hatte im Bruchteil einer Sekunde die Klippe selbst verschlungen. Für einen Moment verschwand das Land hinter dem turmhohen Schaumkamm der Gischtwelle. Das Boot wurde immer schneller, raste nach Norden, auf das Ufer zu und fing an, sich wie ein Kreisel zu drehen. Eine gewaltige Strömung entstand. Brüllende Gischtkaskaden leckten um die Nordspitze von Ascension, schwollen an und nahmen die ganze Halbinsel in einen weißschäumenden Klammergriff, bis das ganze Land unter einem brodelnden Grabtuch verschwunden war. Graham umklammerte zwei der seilernen Haltegriffe an der Innenwand des Bootes und betete, dass sie nicht kenterten. Das Brüllen der Wassermassen übertönte jetzt jedes andere Geräusch.
Das Boot stampfte und kreiselte wie wild. Gischtfetzen peitschten ihnen ins Gesicht und durchnässten sie bis auf die Haut. Die Insel Ascension wirbelte an ihnen vorüber, als die Flutwelle sie über die schäumende Nordhalbinsel trug. Vor ihnen rollte eine Wasserwand über das Land und prallte unter ohrenbetäubendem Donnern mit der vorausgegangenen Welle zusammen, die um die Nordspitze der Halbinsel herumgerast war. Turmhohe Gischtsäulen jagten in die Luft, sackten zu irrwitzig wirbelnden Schaumkreiseln zusammen, die, wild durcheinander rasend, erneut meterhohe Fontänen in die Luft schossen.
»Haltet euch fest!« schrie Graham aus Leibeskräften, aber er hörte nicht einmal mehr die eigene Stimme.
Nun war die ganze Halbinsel unter Wasser, bis auf die Spitze der höchsten Felsen, an denen sie mehrmals um Haaresbreite vorbeiwirbelten. Mit atemberaubendem Tempo schossen sie genau auf das Zentrum des Strudels zu, der sich zwar ein wenig beruhigt hatte, aber noch immer weiß schäumend brodelte.
Und dann waren sie mittendrin. Graham schnappte noch ein letztes Mal nach Luft und schloss die Augen. Sie schienen geradewegs in eine Mauer aus Wasser zu rasen, und sekundenlang war nur noch grün und weiß brodelndes Chaos um sie herum. Irgendwann, als er glaubte, seine Lungen würden jeden Moment bersten, schlug er die Augen auf und war fast überrascht festzustellen, dass sein Kopf wieder frei war. Alle Insassen waren noch an Bord, durchgeweicht, hustend und speiend zwar, aber ansonsten wohlbehalten. Das Boot stampfte und schlingerte nach wie vor heftig, und um ihre Beine schwappte Wasser, aber zumindest konnten sie wieder Luft holen. Die Maschinenpistole war zusammen mit allem übrigen losen Kram über Bord gespült worden, und der Motor
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