Kristall der Macht
Strand beisammensaßen. Stumm, antriebslos und offensichtlich ohne jegliches Gespür für das Notwendige.
Noelani überraschte das nicht. Nach allem, was sie zu Beginn der Geistreise am Strand gesehen und mit angehört hatte, wäre es geradezu ein Wunder gewesen, wenn Jamak die Flüchtlinge doch noch zum Errichten von einfachen Unterständen und dem Sammeln von Feuerholz hätte bewegen können. Nichts von alledem war geschehen. Die Menschen waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie in der Lage gewesen wären, Verantwortung für andere zu übernehmen. Trauer, Schmerz und Verzweiflung lasteten so schwer auf ihren Schultern, dass kaum noch einer die Kraft besaß, nach vorn zu schauen. Die meisten, so schien es, hatten keine Angst mehr vor dem Tod. Sie fürchteten das Leben.
Im schwindenden Licht hielt Noelani nach Jamak Ausschau. Er war nicht schwer zu finden, eine einsame Gestalt an einem kleinen Feuer aus feuchtem Holz, das mehr Qualm als Wärme erzeugte. Der Anblick stimmte sie traurig. Jamak war so voller Tatendrang gewesen, als sie aufgebrochen war. Nun wirkte auch er mutlos.
Noelani nahm einen tiefen Atemzug und ging zu ihm. Sie war sicher, dass er sie kommen hörte. Er sah aber nicht auf – auch nicht, als sie sich neben ihn setzte.
Noelani wartete geduldig. Schweigend harrte sie neben Jamak aus, blickte wie er aufs Meer hinaus und hoffte darauf, dass er irgendwann das Wort an sie richten würde. Aber Jamak schwieg.
Die glutrote Scheibe der Sonne berührte den Horizont und entflammte den Himmel in leuchtenden Farben, aber immer noch schien es, als habe Jamak die Sprache verloren.
»Ich habe es versucht«, sagte er schließlich.
»Ich weiß.«
»Aber ich kann sie nicht zwingen.«
»Nein.« Noelani lächelte. »Das würde ich auch nie von dir verlangen.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass es ihnen so schlecht geht«, fuhr Jamak fort, dem offenbar klar wurde, was Noelani schon an Bord des Schiffes gespürt hatte. »Aber ich kann sie verstehen.«
»Ich auch.« Noelani seufzte. »Und ich werde alles tun, um ihnen zu helfen.«
»Was hast du herausgefunden?« Jamak blickte Noelani von der Seite her an. »Stimmt es, was der Kapitän uns erzählt hat? Ist die Lage hier wirklich so schlimm?«
»Schlimmer.« Noelani nickte und fügte hinzu: »Aber das müssen die anderen nicht wissen.«
»Was hast du vor?«
»Ich werde in die Stadt gehen und den König bitten, uns aufzunehmen«, sagte Noelani. »Hier können wir nicht bleiben.«
»Einfach so?« Jamak runzelte die Stirn.
»Nein, nicht einfach so. Ich werde ihm dafür etwas anbieten.«
»Aber wir haben nichts, das wir …«
»Doch, etwas haben wir.« Noelani löste den Lederbeutel mit den Kristallen von ihrem Gürtel, öffnete ihn und hielt ihn so ins Licht der Flammen, dass Jamak den Inhalt erkennen konnte.
»Die Kristalle …« Jamak riss erstaunt die Augen auf.
»Ja.« Noelani schloss den Beutel wieder und verbarg ihn unter ihrem Gewand. »Die anderen müssen nicht erfahren, dass ich sie bei mir habe«, sagte sie und fuhr mit gespielter Zuversicht fort: »Ich hoffe sehr, dass die Steine genug Wert besitzen, damit wir in diesem Land den Grundstein für eine neue und bessere Zukunft legen können.« Dass Kaori angesichts der herrschenden Not in der Stadt und der bevorstehenden Schlacht große Zweifel an dem Wert der Kristalle hegte, behielt Noelani lieber für sich. Die Menschen am Strand hatten ein Recht auf einen Hoffnungsschimmer, und diesen wollte sie ihnen nicht gleich wieder rauben.
»Wann willst du aufbrechen?«, fragte Jamak und fügte sogleich hinzu: »Ich begleite dich.«
»Sofort.«
»Sofort?«
»In der Stadt rüstet man sich für eine große Schlacht, die irgendwo im Norden stattfinden soll«, erklärte Noelani. »Wir dürfen keine Zeit verlieren, sonst treffen wir den König dort nicht mehr an.«
»Aber es wird bald dunkel.«
»Der Mond wird uns Licht spenden«, sagte Noelani mit einem Blick zum wolkenlosen Himmel. »Und der Weg ist einfach zu finden. Wir müssen nur am Strand entlanggehen.« Sie deutete mit einem Kopfnicken auf die anderen Flüchtlinge. »Ich werde ihnen sagen, was ich vorhabe. Wer mag, kann mich begleiten, die anderen müssen die Nacht hier verbringen und warten, bis wir zurückkehren.«
* * *
Taro lag auf seinem Lager und ließ den Tag in Gedanken an sich vorüberziehen. Mit seinem Dienst bei Arkon hatte er es zweifellos gut getroffen. Nach allem, was er als Sklave bisher erlebt
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