Kristall der Macht
mühelos ganz Nintau in Stein verwandeln könne.« Er verstummte, sah Noelani erbost an und fuhr dann in dem ihm eigenen Tonfall fort: »Wenigstens das hättest du für dich behalten können.«
»Aber es ist die Wahrheit.«
»Eine Wahrheit, die den König nichts angeht.« Jamak schnaubte wie ein aufgebrachter Seelöwenbulle. »Jedenfalls nicht, bevor wir beide uns beraten hätten.«
»Dafür war keine Zeit.«
»Doch. Ein Tag mehr oder wenigstens ein halber hätte keinen Unterschied gemacht.«
»Für uns nicht, das ist wahr.« Noelani deutete auf den Korb mit frischem Brot und saftigen Früchten, die auf dem Tisch für sie bereitstanden. »Wir werden hier ja auch bestens umsorgt.« Dann deutete sie zum Fenster, gegen das ein böiger Wind dicke Regentropfen drückte. »Wir sitzen im Warmen und Trockenen. Aber denkst du auch an die anderen, die schutzlos am Strand ausharren? Ohne ausreichend Wasser und Nahrung und ohne ein Dach über dem Kopf? Ich habe das nicht für mich getan, Jamak. Bei all meinen Entscheidungen habe ich nur an sie gedacht. Sie haben keine Zeit. Sie sind geschwächt, hungrig, und viele sind zudem auch verletzt. Ein halber Tag, der ohne die erhoffte Hilfe verstreicht, kann weitere Tote fordern. Tote, die ich ob meines Zögerns zu verantworten hätte.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Die Menschen haben mir vertraut, und ich habe sie enttäuscht. Zweimal schon konnte ich ihnen nicht helfen. Die Menschen, die am Strand auf Hilfe warten, haben schon so viel durchgemacht, so viel Leid und so viele bittere Verluste ertragen müssen. Ich will sie nicht noch einmal enttäuschen und nicht noch mehr Leben auf mein Gewissen laden.«
»Auch wenn du dich dafür in die Dienste eines Tyrannen stellen musst?«
»Wenn es der Preis ist, um sie zu retten – ja.«
»Damit verrätst du alles, woran wir geglaubt und wofür wir gelebt haben.« Jamak schüttelte verständnislos den Kopf.
»So weit ist es noch nicht.« Allmählich wurde auch Noelani ärgerlich. Es war ungerecht, dass Jamak ihr Gedankenlosigkeit und Leichtsinn vorwarf. Sie hatte sich die Entscheidung wahrlich nicht leicht gemacht. »Anders hätte er uns nicht geholfen. Jetzt ist Samui mit einem Wagentross auf dem Weg zum Strand, um unsere Gefährten zu holen. Bevor es dunkel wird, werden sie hier sein. Sie werden etwas zu essen und zu trinken erhalten und die Nacht im Schutz dieses Gebäudes verbringen dürfen. Ein Heiler wird zudem die Verwundeten versorgen. Und das alles für ein ›Vielleicht‹. Ist das etwa nichts? Wäre es dir lieber, sie würden die Nacht hungernd, frierend und durchnässt am Strand verbringen?«
»Mir wäre es lieber gewesen, wenn nicht alles so überstürzt abgelaufen wäre.«
»Mir doch auch.« Noelani wollte sich nicht mit Jamak streiten und bemühte sich um einen versöhnlichen Tonfall. »Aber nachdem der König die Kristalle nicht gegen Nahrung und Land eintauschen wollte und Samui das mit dem Zauber verraten hatte, ging plötzlich alles so schnell. Ich dachte wirklich, wir wären gescheitert, aber dann hat sich diese neue Tür geöffnet, und ich wollte sie auf keinen Fall wieder zuschlagen lassen.« Sie blickte Jamak eindringlich an. »Ich habe in der Vergangenheit so viel falsch gemacht, Jamak«, sagte sie. »Ich habe Menschen enttäuscht und ihnen Kummer bereitet. So viele sind gestorben, aber denen, die überlebt haben, werde ich beweisen, dass sie sich auf mich verlassen können.«
»Das ehrt dich.« Auf Jamaks Lippen zeigte sich ein trauriges Lächeln. »Aber bei den Göttern, um welchen Preis?«
»Um den Preis, dass mein … dass unser Volk überleben wird. Und um den Preis, dass auch das Volk von Baha-Uddin keine Not mehr leiden muss. All diese Menschen vor den Toren, deren Leid dein Herz berührt hat, werden in ihre angestammte Heimat zurückkehren können, wenn es mir gelingt, den Krieg zu beenden. Dann wird auch ihr Elend ein Ende haben.«
»Und was ist mit dem fremden Volk?«, fragte Jamak. »Hat es nicht auch ein Recht auf Leben und Freiheit?«
»Doch, natürlich. Aber dann hätte es den Krieg nicht beginnen dürfen.« Noelani sagte das so überzeugt, als wäre es ihre ureigene Meinung. »Du hast gehört, was der König gesagt hat. Es sind räuberische Barbaren, die ohne Gnade rauben, morden, vergewaltigen, plündern und brandschatzen. Bevor sie dieses Land überfallen haben, war Baha-Uddin …«
»Das hat er gesagt, aber ist es auch wahr?« Jamak seufzte. »Ehe du dich zur Herrin über
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