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Kristall der Macht

Kristall der Macht

Titel: Kristall der Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Felten
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Rückweg zum Tempel holte die Erinnerung sie ein. Bilder von Menschen, die sie ins Herz geschlossen hatte, tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Alle lachten und waren glücklich, und immer standen sie im Sonnenschein. Sie sah ihre Mutter vor der Hütte sitzen, ihren Vater, der winkend zum Fischen aufs Meer hinausfuhr, Kaori, die erschöpft nach einem Wettlauf am Strand lag. Sie sah Verwandte und Freunde und fühlte – nichts.
    Wo Schmerz hätte wüten sollen, war nur eine große und kalte Leere, als hätte der Luantar ihr mit seinem Giftatem auch die Fähigkeit zu trauern genommen.
    In diesem Augenblick war sie froh, Jamak an ihrer Seite zu wissen. Der kluge Jamak, der immer Rat wusste. Der starke Jamak, der immer da war, wenn sie ihn brauchte. Der sanfte Jamak, der sie tröstete und durch die Dunkelheit führte – Jamak, der ihr gerade das Leben gerettet hatte. Selbstbewusst hatte sie den Tempel verlassen, überzeugt, dass Semirah und die anderen sich irrten. Hochmütig hatte sie Jamak spüren lassen, dass sie seines Schutzes nicht länger bedurfte, und ihm befohlen, im Tempel zu bleiben. Nun kehrte sie zurück, gebrochen und wie ein hilfloses Kind von seiner Hand geführt.
    Sie hatte versagt. Alle wussten es. Die Blicke der Dienerschaft sprachen Bände. Niemand sagte ein Wort, als Jamak Noelani zu ihrem Schlafgemach führte, aber die Wut über ihr Versagen war deutlich zu spüren und drang selbst durch die Lethargie, die Noelani erfasst hatte, zu ihr durch. Sie war froh, als sich die Tür hinter ihr schloss und Jamak sie zu ihrem Bett begleitete. Sie legte sich nieder, obwohl sie nicht müde war, starrte mit offenen Augen an die Decke und trank gehorsam den Tee, den er ihr reichte. Und immer noch fühlte sie nichts.
    Es waren die Kräuter in dem Tee, die ihr die Stimme schließlich wiedergaben. Nach einer Zeit, in der Minuten, aber auch Stunden verstrichen sein mochten, nahm sie all ihre Kraft zusammen und stellte die eine Frage, deren Antwort ihre Hoffnungen nähren oder für immer zerstören würde.
    »Sie sind tot. Nicht wahr?«
    »Alle.« Jamak nickte. Als Noelani ihn anschaute, schien er um Jahre gealtert. Auch er hatte eine Familie im Dorf gehabt. Eine Frau und zwei süße Mädchen.
    »Lass mich allein.«
    »Aber Noelani …«
    »Bitte.«
    Er widersprach nicht. Leise erhob er sich, neigte zum Abschied kurz das Haupt und sagte: »Wenn du mich brauchst, rufe einfach. Ich bin in deiner Nähe.«
    »Ich weiß.« Noelani nickte matt. Der Tee hatte seine Wirkung entfaltet und einen Teil der Leere aus ihrem Herzen vertrieben, aber es war kein guter Tausch, denn nun drohte der Schmerz sie zu überwältigen, und sie wollte nicht, dass Jamak sie weinen sah. Schweigend schaute sie ihm nach, als er zur Tür ging, richtete dann aber doch noch einmal das Wort an ihn: »Jamak?«
    »Ja?«
    »Ich danke dir.«
    Er schenkte ihr ein trauriges Lächeln und schloss leise die Tür hinter sich. Die einkehrende Ruhe brach den Damm, der die Tränen zurückgehalten hatte. Noelani schluchzte auf, warf sich im Bett herum, vergrub das Gesicht in den Kissen und ergab sich dem Sturm der Gefühle, der begleitet von Weinkrämpfen wie ein Rudel Raubtiere in ihr wütete und sie zu zerreißen drohte. Kummer, Schmerz und Scham bahnten sich mit Macht einen Weg aus ihrem Innern, und sie wehrte sich nicht dagegen.
    Es gab keinen Trost und keine Hoffnung und während sie all der Inselbewohner gedachte, denen ihr Versagen einen so grausamen Tod beschert hatte, war es nur ein einziger Name, den sie in ihrer Verzweiflung immer wieder schluchzte: »Kaori!«
     
    *  *  *
    Grau.
    Alles war grau. Und still.
    Sie war nicht allein. Es gab noch andere, die sich in dem Grau bewegten. Viele. Sehen konnte sie sie nicht, aber sie spürte ihre Nähe. Im hintersten Winkel ihres Bewusstseins blitzte der Gedanke auf, dass sie sich fürchten müsse, doch als sie in sich hineinhorchte, fand sie keine Regung. Das graue Nichts, durch das sie sich bewegte, schien ihre Empfindungen ausgelöscht zu haben.
    Sie versuchte, sich zu erinnern, wie sie an diesen Ort gekommen war. Der Versuch scheiterte schon im Ansatz, und da sie keine Gefühle besaß, nahm sie die Erkenntnis, keine Erinnerungen zu haben, wie selbstverständlich hin.
    Alles war richtig, alles war gut. Es schien, als ob sie selbst zu einem Teil des allgegenwärtigen Graus geworden sei. Körperlos, ohne Gefühle und Erinnerungen, ohne Namen, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, aber nicht ohne Ziel. Obwohl

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