Kristall der Macht
Tugenden wie Ehre, Mitleid und Hilfsbereitschaft fremd waren. Für Jamak war König Azenor die Quelle allen Übels, und er hatte es Noelani nicht verziehen, dass sie ihm ihre Hilfe angeboten hatte.
Noelani war das gleichgültig. Sie mochte den König nicht und war wütend, weil er sie betrogen hatte, aber sie wusste auch, dass Worte nichts würden bewirken können. Sie hatte anderes im Sinn. Verstohlen tastete sie mit einer Hand nach den Kristallen, die sie in der Tasche mit sich führte. Es galt, sie unbemerkt so im Zelt zu verteilen, dass sich der Tisch in der Mitte befand und keiner der Anwesenden etwas davon bemerkte. Den ersten Kristall hatte sie schon beim Eintreten in dem üppigen Blattwerk eines Blumenschmucks versteckt, der im Rücken des Königs den Raum zierte, einen zweiten in einem weiteren Gebinde am anderen Ende der Tafel. Die übrigen drei mussten unauffällig an den Längsseiten des Tisches jenseits der Stuhlreihen versteckt werden.
Nur wie?
Während sie aß, hielt Noelani aufmerksam nach geeigneten Verstecken Ausschau, doch die waren nur spärlich gesät. Ein Stuhl, auf dem ein paar Kleidungsstücke abgelegt waren, bot sich an, ebenso ein langer Tisch an der Zeltwand, auf dem die Gonweebene mit den beiden Lagern und dem Fluss selbst in winzig kleinem Format nachgebildet waren. Eine Standarte mit dem Wappen Baha-Uddins konnte die letzte Möglichkeit bieten, aber solange alle am Tisch saßen, war es ihr unmöglich, unbeobachtet zu den Plätzen zu gelangen. Andererseits musste sie ihren Plan vollenden, ehe die Gäste sich erhoben, denn nur während des Essens waren alle beisammen. Mit klopfendem Herzen wartete sie auf einen günstigen Augenblick, doch wie es schien, vergeblich.
Die Vorspeisen wurden abgeräumt und der Wein für das Hauptgericht ausgeschenkt. Die anwesenden Gäste unterhielten sich angeregt, aber niemand erhob sich, sodass es sofort aufgefallen wäre, wenn Noelani um den Tisch herumgegangen wäre. Immer wieder wanderte ihre Hand zu den Kristallen in ihrer Tasche, um sich zu vergewissern, dass sie noch da waren, und jedes Mal hatte sie weniger Hoffnung, ihr Ziel doch noch zu erreichen.
Das Hauptgericht, dampfende Geflügelbraten mit Beilagen, deren Namen Noelani nicht kannte, wurde aufgetragen. Doch gerade als die Gäste mit dem Essen beginnen wollten, erhob sich General Triffin und bat um Ruhe. »Eure Majestät, verehrte Gäste, liebe Freunde«, begann er seine Rede in der für Baha-Uddin üblichen Form. »Die Stunde des Sieges über den verhassten Feind ist wahrhaftig ein Grund zu feiern. Doch fast noch mehr freut es mich zu verkünden, dass wir heute noch einen und nicht weniger wundersamen Grund haben, die Pokale zu heben und die Götter für ihren Großmut zu preisen.«
»Was soll das sein?«, rief einer der Hauptleute. »Hast du endlich eine Frau gefunden?« Alle lachten.
»Besser!« Triffin ging nicht weiter auf die Bemerkung ein. Er gab einem der Diener an der Tür ein Zeichen, worauf dieser das Zelt verließ. Dann sagte er: »Ich habe jemanden gefunden, den wir alle lange verloren glaubten und dessen Verlust wir sehr betrauert haben. Ich möchte diese feierliche Zusammenkunft nutzen, um euch stolz und glücklich einen Gefangenen vorzustellen, den wir wie durch ein Wunder unversehrt aus dem Lager der Rakschun befreien konnten.«
Alle wandten ihre Gesichter dem Eingang zu, vor dem sich im Licht der untergehenden Sonne schattenhaft Gestalten bewegten. Endlose Augenblicke lang geschah nichts, dann schlüpfte der Diener wieder in das Zelt und gab Triffin mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass alles bereit war.
»Eure Majestät, verehrte Gäste, liebe Freunde«, hob der General noch einmal an, während der Diener wieder hinausschlüpfte. »Was wir nie zu hoffen gewagt haben, ist Wirklichkeit geworden. Prinz Kavan ist zu uns zurückgekehrt!«
Noch während er das sagte, wurde die Plane vor dem Eingang zurückgeschlagen, und ein junger Mann in edlem Gewand betrat das Zelt. Sein Gesicht war unter der Kapuze seines Umhangs nicht zu erkennen, doch kaum dass er das Zelt betreten hatte, schlug er diese zurück.
Im Zelt brach ein Tumult aus. Alle sprangen auf, umringten den Prinzen, den sie offenbar für tot gehalten hatten, und riefen überschwänglich durcheinander. Freude und Überraschung standen ihnen in die Gesichter geschrieben. Noelani hatte noch nie von dem Prinzen gehört, aber ein Blick in seine eisblauen Augen genügte, um ihr zu zeigen, dass er der Sohn von König
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