Kristall der Macht
Azenor war. Dieser war als Einziger auf seinem Stuhl sitzen geblieben und beobachtete das Durcheinander am Eingang mit unbewegter Miene.
Er scheint sich gar nicht zu freuen, dachte Noelani, schob den Gedanken dann aber fort, weil sie in der allgemeinen Unruhe die lang ersehnte Gelegenheit erkannte, die Kristalle unbemerkt an ihre Plätze zu bringen. Niemand beachtete sie, als sie sich erhob und um den Tisch herumging, als wollte auch sie den Prinzen begrüßen. Und es bemerkte auch niemand, wie sie ihre Hand in die Tasche ihres Gewandes schob, unauffällig einen Kristall nach dem anderen hervorholte und diese auf den Tisch mit dem Miniaturlager legte, unter den Gewändern auf dem Stuhl versteckte und am Fuß der Standarte platzierte. Als sie damit fertig war, setzte sie ihren Weg in Richtung des Prinzen fort, doch ehe sie ihn erreichte, erhob sich der König und befahl allen mit lauter Stimme, an ihre Plätze zurückzukehren. Noelani war das nur recht. Sie hatte lange genug auf diesen Moment gewartet. Jetzt konnte sie endlich beginnen.
Als eine der ersten nahm sie ihren Platz wieder ein und beobachtete, wie auch die anderen sich setzten. Prinz Kavan ging wie selbstverständlich zu dem freien Platz, aber sein Vater gestattete ihm nicht, sich zu setzen. Noelani war gespannt, was er sagen würde. Auch wenn er nicht glücklich ausgesehen hatte, war sie sicher, dass er sich freute, seinen totgeglaubten Sohn wiederzusehen. Aber sie täuschte sich.
»Du hättest tot sein müssen, Kavan!«, rief Azenor seinem Sohn über den Tisch hinweg wutentbrannt zu. »Warum bist du es nicht?«
Wie abgeschnitten trat Schweigen ein. Alle starrten erst den König und dann Prinz Kavan an, der wie vom Donner gerührt an seinem Platz stand und den Blick seines Vaters mit einer Mischung aus Furcht, Hass und Abscheu erwiderte.
Obwohl Noelani unmittelbar neben dem König saß, beachtete sie niemand. Das war die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte. Mit angehaltenem Atem tastete sie nach dem Stein in ihrer Tasche, schloss die Hand fest darum, erhob sich, ging zu Jamak und tippte ihm auf die Schulter, als müsse sie ihm etwas sagen. Während Prinz Kavan am Tisch zu einer Antwort ansetzte, führte sie Jamak vom Tisch fort.
Er wusste nicht, was geschah, und wollte sie etwas fragen, aber sie schüttelte nur den Kopf und legte den Finger auf die Lippen.
Dann schloss sie die Augen und erschuf im Geiste erneut das Ebenbild des porösen Gesteins, in das sie auch schon die Krieger der Rakschun verwandelt hatte …
Kaum eine Minute später war alles vorbei.
Die Stille im Zelt war gespenstisch. Der Anblick der versteinerten Tafel, an der steinerne Gäste vor zu Stein gewordenen Speisen saßen und ein Prinz aus Stein dem versteinerten König bittend die Hände entgegenstreckte, war von einer so entsetzlichen Schönheit, wie es nur ein Kunstwerk sein konnte, das der Tod selbst geschaffen hatte.
»Bei den Göttern! Was hast du getan?« Obwohl Jamak flüsterte, war sein Entsetzen nicht zu überhören.
»Das einzig Richtige!« Noelani eilte zum Eingang und tauschte ein paar Worte mit den Wachen. Dann verschloss sie den Eingang sorgfältig und kehrte zu Jamak zurück. »Ich habe gesagt, dass die Gesellschaft nicht gestört werden möchte«, erklärte sie im Flüsterton, während sie die flache Schüssel, die zum Reinigen der Hände mit Wasser gefüllt neben der Tür bereitstand, aus dem schmiedeeisernen Ständer nahm.
»Was hast du vor?« Jamak war immer noch erschüttert. »Wir können hier nicht bleiben. Wir müssen weg. Schnell. Wenn herauskommt, dass du sie getötet hast …«
»Sie sind nicht tot.« Noelani stellte die schwere Schale auf den -Boden und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen davor. »Ihre Geister sind in einer Zwischenwelt, so wie die der Rakschun. Auch sie sind nicht tot.« Sie schaute Jamak ernst an. »Du musst mir glauben, Jamak. Es ist dieselbe Welt, die ich während der Geistreise besuchen kann. Ich könnte sie sogar wieder lebendig machen, aber dafür ist es noch zu früh, denn ich habe einen Plan. Ich will versuchen, die Anführer der Rakschun mit den Herrschern von Baha-Uddin in der Geisterwelt zusammenzubringen und sie dazu bewegen, miteinander zu verhandeln, damit dieser Krieg friedlich und ohne weitere Opfer beendet werden kann. Nur deshalb habe ich die Magie der Kristalle noch einmal gewirkt. Es ist meine letzte Hoffnung, dass doch noch alles ein gutes Ende nimmt.«
Jamak schüttelte den Kopf. »Aber sie sind
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