Kristall der Macht
die Sonne sich unaufhaltsam dem Horizont zuneigte und im Osten bereits die ersten Sterne ihr Antlitz auf dem samtenen Blau des Abendhimmels zeigten.
Es wird bald dunkel. Kaori erschrak. Wie sollte sie ihr Ziel im Dunkeln erkennen? Wie den Rückweg finden? Obwohl der Dämon davon gesprochen hatte, dass es eine weite Reise war, hatte sie nicht damit gerechnet, dass es so lange dauern würde. Nun war es für eine Umkehr zu spät. Sie konnte nur hoffen und auf das Glück vertrauen. Ein prüfender Blick zur Sonne ließ nichts Gutes erahnen. Aus der glutroten Scheibe war inzwischen ein glühender Halbkreis geworden, der rasch zusammenschmolz. Bald würde ihr nur noch ein Silberstreif am Horizont den Weg weisen.
Wenn ich überhaupt auf dem richtigen Weg bin …
Kaori versuchte, nicht auf die Zweifel zu achten, die eine leise Stimme ihr immer wieder einzuflüstern versuchte. Sie hatte so viel gewagt und war schon so weit geflogen. Es durfte einfach nicht sein, dass sie sich irrte. Dass der Nebel sich unter ihr immer noch in alle Richtungen erstreckte, nahm sie als ein gutes Zeichen. Aber das schwindende Licht bereitete ihr Sorgen und mit ihm die Aussicht, vielleicht die ganze Nacht an Ort und Stelle verharren zu müssen, bis es wieder hell wurde. Sie versuchte, schneller zu fliegen, musste aber einsehen, dass es auch für ein körperloses Wesen Grenzen gab.
Bald darauf erlosch der letzte glühende Funke am Horizont. Die Sonne war fort. Mit sinkendem Mut beobachtete Kaori, wie die Nachtschatten aus dem Osten den Nebel mehr und mehr vor ihren Blicken verbargen, bis sich unter ihr ein Meer aus Finsternis erstreckte. Doch gerade als sie aufgeben und den Morgen abwarten wollte, bemerkte sie aus den Augenwinkeln ein unstetes Flackern im Westen, das von einem gewaltigen Feuer herzurühren schien. Neugierig hielt sie darauf zu.
Der Weg war weiter, als sie vermutet hatte. Es wurde dunkel, aber das bereitete ihr nun keine Sorge mehr, denn anders als zu Lebzeiten konnte sie selbst in der mondlosen Nacht noch alles gut erkennen. Es überraschte sie, dass sie ohne Licht noch fast so gut sehen konnte wie bei Tage, obgleich den Dingen des Nachts die Farbe fehlte.
Kaori fasste neuen Mut, richtete den Blick voraus und erkannte in der Ferne die Umrisse einer Insel, die sich mehr als hundert Schritt über den Ozean erhob und nur aus einem einzigen finsteren Berg zu bestehen schien. Die Hänge waren kahl und glänzten feucht im Licht der Sterne. Am eindrucksvollsten aber war der Gipfel. Er war nicht spitz, wie Kaori es von den Bergen ihrer Heimat kannte, sondern sah aus wie ein riesiges Maul. Ein glutgefüllter Krater, der sich zum Himmel hin öffnete, als wolle er die Sterne verschlingen. Und aus diesem Maul – Kaori hätte vor Erleichterung am liebsten laut geschrien – quoll unablässig der Nebel. Wie ein unheilvoller Atem floss er in breitem Strom den westlichen Hang hinab bis zum Meer, wo er von einer kaum spürbaren Luftströmung nach Westen getragen wurde.
Ein Berg.
Es war unglaublich. Die alten Legenden waren nichts als Lügen. Kein Dämon, sondern ein Berg, aus dessen Schlund giftiger Dampf an die Erdoberfläche trat, war schuld an dem tausendfachen Tod in ihrer Heimat. Ein Berg, so alt wie die Welt, dessen gewaltiger Zerstörungskraft nicht einmal die mächtigste Zauberin würde Einhalt gebieten können.
Ein Todesberg.
Kaori glaubte zu spüren, wie ihr die Kehle eng wurde, als sie das ganze Ausmaß der Bedrohung begriff und erkannte, welch ungeheures Glück ihr Volk in den vergangenen Jahrhunderten gehabt hatte.
»Glück!« Kaori sprach das Wort aus, als hätte es einen bitteren Beigeschmack. Die Sicherheit, in der sie sich gewähnt hatten, hatte es nie gegeben, und auch in Zukunft würden die Menschen auf Nintau nicht sicher sein.
Je länger Kaori darüber nachdachte, desto mehr war sie davon überzeugt, dass es für ihr Volk nur einen Weg gab, zu überleben. Dies zu entscheiden lag jedoch nicht in ihrer Macht, denn die Welt der Lebenden war ihr verschlossen. Sie musste Noelani erreichen. Noelani war die Maor-Say, ihr würden die Menschen folgen.
Kaori drehte sich um und machte sich auf den Rückweg. Sie hatte genug gesehen. Nun galt es einen Weg zu finden, Noelani die Wahrheit wissen zu lassen, und sie hatte auch schon einen Plan, wie ihr das gelingen konnte.
* * *
Am Morgen des dritten Tages, nachdem die Katastrophe Nintau heimgesucht hatte, stand Noelani wieder auf dem kleinen Plateau, von dem aus sie
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