Kristall der Macht
den tödlichen Nebel zum ersten Mal gesehen hatte. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. Es war warm, und irgendwo in den Gehölzen hinter ihr ließ ein kleiner Vogel sein Lied erklingen. Noelani schloss die Augen und gab sich dem trügerischen Gefühl hin, dass alles so war wie früher. Dass es keine Not und kein Elend gab, dass all die unschuldigen Menschen noch am Leben waren, dass die Natur ringsumher in den leuchtenden Farben erstrahlte, die der Inselsommer stets hervorzauberte – und dass Kaori noch bei ihr war.
Kaori! Noelani spürte das gewohnte Kribbeln in der Nase, mit dem sich die Tränen ankündigten, und kämpfte dagegen an. »Eine Maor-Say zeigt ihre Gefühle nicht.« Das war die erste Regel, die man ihr im Tempel beigebracht hatte. »Eine Maor-Say ist gefeit gegen Kummer und Schmerz.«
Noelani schluckte gegen die Tränen an. Sie hatte hart daran gearbeitet, so zu werden, wie man es von ihr verlangte. Und tatsächlich hatte sie damit Erfolg gehabt – bis der Nebel kam und ihr den Menschen raubte, der ihr so nahestand wie niemand sonst. Mit Kaori, so schien es ihr, war ein Teil ihres Selbst gestorben. Aber sie musste stark sein. So trug sie am Tage die Maske der unerschütterlichen Maor-Say, die zuhörte, tröstete und Hoffnung spendete. Die Nacht jedoch gehörte den Tränen, die in der Einsamkeit ihres Schlafgemachs hemmungslos flossen, während sie die Götter für ihre Grausamkeit verfluchte und mit dem Schicksal haderte, das so hart mit ihr umsprang. Wenn dann die Sonne aufging und ihre Tränen trocknete, schlüpfte sie wieder in die Rolle der Erhabenen, wohl wissend, dass sich unter der Maske der Unnahbarkeit kaum mehr als eine dünne und verletzliche Haut verbarg.
Noelani kniff die Augen fest zusammen, atmete tief durch und rang den Kummer nieder, der sie zu überwältigen drohte, so wie man es sie gelehrt hatte. Fast wünschte sie, sie könne die Augen immer so geschlossen halten und nur das sehen, was die Erinnerung ihr zeigte, denn das Bild des friedlichen Sommertags verflog augenblicklich, sobald sie die Augen öffnete. Statt schaumgekrönter Wellen im Sonnenschein erstreckte sich zu ihren Füßen auch an diesem Morgen die wogende Nebelmasse, so zäh und träge, als hätte sie beschlossen, die kleine Insel für immer von der Außenwelt abzuschneiden.
»Er zieht nicht ab.« Jamak hatte sich lautlos genähert und trat neben sie. »Und solange kein Wind aufkommt, wird er sich auch nicht auflösen.«
»Ich wünschte, ich hätte die Macht, den Wind herbeizurufen.« Noelani betonte sorgsam jedes Wort, damit ihre Stimme nicht schwankte, und schüttelte den Kopf. »Der Gedanke, dass dort unten all die Toten …« Sie brach erschüttert ab und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Wir können sie nicht einmal bestatten.«
»Nein, das können wir nicht. Dabei wird es höchste Zeit«, pflichtete Jamak ihr bei und rümpfte die Nase. »Es ist warm. Der Geruch nach Verwesung wird bald unerträglich werden, und die Gefahr, dass Krankheiten ausbrechen, wächst mit jedem Tag. Nur gut, dass der Bach am Tempel von einer Quelle aus den Hügeln gespeist wird.«
»Können wir denn gar nichts tun?«, fragte Noelani.
»Ich fürchte, nein.« Jamak seufzte. »Erst muss sich der Nebel auflösen.«
Schweigend standen sie beisammen und beobachteten ein paar Möwen, die unschlüssig über dem Nebel kreisten. »Wasser haben wir genug«, sagte Noelani nachdenklich. »Aber die Vorräte gehen zur Neige. Noch ein oder zwei Tage, dann werden wir uns mit dem begnügen müssen, was die Hügel zu bieten haben.«
»Das werden wir auch müssen, wenn jetzt Wind aufkommt.« Jamak deutete auf den Nebel. »Dort unten gibt es kein Leben mehr«, sagte er düster. »Alles ist tot oder verdorben. Und ich fürchte, selbst das Meer und seine Lebewesen haben Schaden genommen. Von dort können wir keine Hilfe erwarten.«
»Das sind keine guten Aussichten.«
»Nein.«
»Meinst du, die Schildkröten haben es gewusst?«, fragte Noelani, um von dem bedrückenden Thema abzulenken. »Kann es sein, dass sie das Furchtbare gespürt haben, das geschehen wird? Ich habe sie doch gesehen und gespürt, dass sie zur Insel kommen werden, aber dann waren sie plötzlich fort.«
»Tiere sind oft sehr viel empfindsamer als wir Menschen«, meinte Jamak. »Mag sein, dass sie es gespürt haben. Aber genau werden wir das wohl nie erfahren.« Er blickte Noelani an und fragte: »Hast du schon versucht herauszufinden, woher der Nebel
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