Kristall der Macht
kommt?«
»Nein, ich …« Noelani verstummte und suchte nach einer Antwort. Auf keinen Fall sollte Jamak etwas von ihrem Kummer und der Trauer über den Tod ihrer Schwester erfahren. Er musste nicht wissen, wie viele Tränen sie vergossen hatte. Er nicht und niemand sonst. So viele hatten ihre Liebsten verloren. So viele trauerten. Sie aber war die Maor-Say, sie musste den anderen ein Vorbild sein. »… ich fühlte mich gestern noch zu schwach«, sagte sie gedehnt und fügte hinzu: »Die letzten Tage waren sehr anstrengend. Es gab so viel zu tun, und ich … habe kaum geschlafen. Auch hat mir die Geistreise auf der Suche nach den Schildkröten mehr zugesetzt, als ich vermutet habe. Aber heute Abend werde ich es wagen. Heute Abend werde ich mich auf die Suche nach der Quelle des Nebels begeben. Das bin ich den Überlebenden schuldig. Sie haben ein Recht darauf, es zu erfahren.«
»Wenn du es möchtest, werde ich während der Reise an deiner Seite wachen«, bot Jamak an.
»Das ist nicht nötig.« Noelani schüttelte den Kopf. Nachts wollte sie allein sein. »Diesmal bin ich vorsichtig. Das verspreche ich.«
»Das ist gut.« Jamak schenkte ihr ein Lächeln. Dann trat er an den Rand der Klippe, sah nach unten und erstarrte. »Ihr Götter!«
»Was ist?« Noelani eilte zu ihm und blickte ebenfalls in die Tiefe. Das schmutzige Gelb des Nebels war abscheulich. Davon abgesehen, erkannte sie jedoch nichts Ungewöhnliches. »Was hast du?«, fragte sie noch einmal.
»Der Nebel.« Jamak deutete auf die wogenden Schwaden. »Siehst du es nicht? Er steigt!«
»Bist du sicher?« Noelani starrte angestrengt nach unten, konnte aber keine Veränderung ausmachen – oder doch? Um besser sehen zu können, kniete sie sich hin und suchte die Wand der Klippe nach dem Nest ab, in dem die jungen Kliffschwalben gehockt hatten. Sie glaubte sich zu erinnern, dass das Nest in einer Nische nur wenige Armlängen oberhalb des Nebels gelegen hatte, aber weder das Nest noch die Nische waren zu sehen – der Nebel hatte sie verschlungen. »Du hast recht.« Plötzlich bekam Noelani Angst. »Glaubst … glaubst du, er wird noch weiter steigen?«, fragte sie verstört.
»Wenn kein Wind aufkommt …« Jamak ließ den Satz unvollendet und seufzte. »Wir müssen ihn auf jeden Fall im Auge behalten.«
»Ich könnte Posten einteilen, die …«
»Nein!« Jamak schnitt Noelani barsch das Wort ab, schien den scharfen Tonfall aber sogleich zu bereuen. Etwas sanfter fuhr er fort: »Wir dürfen es keinem sagen. Die Überlebenden haben Schreckliches durchgemacht. Die Gefahr, dass sie in Panik geraten, ist zu groß. Das würde niemandem helfen. Zwar gibt es noch keinen Grund zur Sorge, aber ich fürchte, wenn kein Wind aufkommt und der Nebel weiter steigt, wird dieses Plateau in spätestens drei Tagen verschwunden sein.«
»So bald schon?« Noelani erbleichte. Sie wusste, dass Jamak recht hatte, dennoch war ihr nicht wohl bei dem Gedanken, die Menschen im Tempel im Unklaren zu lassen. »Wenn der schlimmste Fall eintreten sollte und der Nebel die Plattform erreicht, werden wir den Tempel verlassen und die Hänge hinauf fliehen«, sagte sie auf eine Weise, die deutlich machte, dass auch sie mit dem Ärgsten rechnete. »Darauf müssen wir uns vorbereiten. Sonst stehen wir am Ende wieder ohne Kleidung und Nahrung da, so wie vor ein paar Tagen.«
»Natürlich müssen wir Vorbereitungen treffen.« Jamak nickte ernst. »Aber heimlich. Es genügt, wenn wir einige wenige einweihen, die uns dabei helfen, Bündel für den Notfall zu schnüren.« Er versuchte ein Lächeln und fügte hinzu: »Noch besteht Hoffnung, dass rechtzeitig Wind aufkommt. Ich werde regelmäßig nachsehen, wie der Nebel sich entwickelt. Ganz gleich, was auch geschehen mag: Diesmal sind wir gewarnt.«
»Mögen die Götter deine Worte erhören.« Als Noelani noch einmal einen Blick auf den Nebel warf, schien es ihr, als hätte dieser die Klippe bereits ein Stück weiter erklommen. Hastig schüttelte sie das beklemmende Gefühl nahenden Unheils ab, erhob sich und sagte: »Lass uns keine Zeit verlieren. Ich werde Semirah und einige andere Dienerinnen unter einem Vorwand Vorräte und Kleider für einen möglichen Aufbruch zusammentragen lassen, während ich nach der Ursache für den Nebel forsche und du das Geschehen hier im Auge behältst.« Sie nahm einen tiefen Atemzug; dann nickte sie, wie um sich selbst zuzustimmen, und meinte: »Das ist ein guter Plan. Falls wir noch höher hinauf
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