Kristall der Macht
gelungen, als Schmied im Lager am Gonwe unterzukommen. Er wird jetzt Augen und Ohren offen halten und uns alles berichten, was wir wissen müssen.«
»Mögen die Götter schützend die Hand über ihn und diese köstlichen Tauben halten.« Azenor gähnte und biss herzhaft in die Taubenbrust. Er machte keinen Hehl daraus, dass er Triffins angeblich wichtige Neuigkeiten für nebensächlich hielt. »Hoffen wir, dass seine nächsten Botschaften etwas Brauchbares enthalten«, sagte er kauend. »Wir haben schließlich einen Krieg zu gewinnen.«
»Das werden sie. Dessen könnt Ihr gewiss sein.« Obwohl Triffin innerlich vor Wut kochte, ließ er sich die Enttäuschung über Azenors Verhalten nicht anmerken, denn er hatte noch etwas anderes auf dem Herzen. »Im Palast sah ich erstaunlich viele Wachen«, wechselte er das Thema. »Ist etwas vorgefallen?«
»O ja, das ist es. In der Tat«, erwiderte der König mit vollem Mund. »Und nicht nur einmal. Mehrfach haben sich Kinder aus den Flüchtlingslagern heimlich in den Palast geschlichen und Vorräte aus den königlichen Speisekammern gestohlen. Einer der Küchenburschen hat ihnen dabei geholfen. Aber wir haben sie erwischt und hingerichtet – alle. Jetzt sorgen Wachen vor jeder Tür dafür, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt.«
»Sie wurden … hingerichtet?« Triffin glaubte, sich verhört zu haben. »Kinder?«
»Plünderer und Diebe!«, korrigierte Azenor ungerührt. »Unglaublich, dass sie nicht einmal vor den Palastmauern haltmachen.«
»Ja, unglaublich.« Triffin war zutiefst erschüttert. Azenor war dafür bekannt, dass er mit harter Hand regierte. Aber Kinder töten, die aus Hunger und Verzweiflung zu Dieben wurden …? Das war etwas, das er selbst Azenor nicht zugetraut hätte.
»Das Beispiel hat seine Wirkung nicht verfehlt«, hörte er Azenor in seine Gedanken hinein sagen. »Und die Wachen tun ein Übriges, um das Pack fernzuhalten. Der Palast ist wieder sicher.«
»Nun dann … ist ja alles in bester Ordnung.« Triffin verneigte sich zum Abschied, verließ den Thronsaal und suchte das Gästezimmer auf, das man für ihn hergerichtet hatte. Die Dinge entwickelten sich nicht nur am Gonwe zum Schlechteren. Er musste nachdenken.
* * *
Die Zeit tröpfelte dahin. Monoton und trostlos wie das Platschen der Planken, die die Männer in das Wasser tauchten, glitt sie dem Abend entgegen. Noelani starrte über das dunkle Wasser des Ozeans und versuchte nicht auf die Trauer zu achten, die sich in ihrem Herzen regte. Früher auf Nintau hatte sie es geliebt, bis zum Horizont blicken zu können. Damals hatte es ihr ein Gefühl grenzenloser Freiheit vermittelt. Jetzt war es einfach nur entmutigend. Wenn der Ozean doch nur nicht so groß wäre und das Boot nicht so klein … Es war zum Verzweifeln.
Jetzt erst verstand sie wirklich, warum die Fischer von Nintau sich niemals weit von der Insel entfernt hatten. Und erst jetzt konnte sie wirklich nachempfinden, welche Ängste ihr Großvater ausgestanden haben musste, als er in jungen Jahren mit seinem Fischerboot von einer Strömung erfasst und weit aufs Meer hinausgetrieben worden war.
Noelani erinnerte sich noch gut daran, wie ihr Großvater die Geschichte am abendlichen Lagerfeuer wieder und wieder erzählt hatte. Es war sein größtes Abenteuer gewesen, und obwohl irgendwann jeder auf Nintau die Geschichte auswendig kannte, so hatten ihm doch alle immer wie gebannt gelauscht, denn dass er immer noch unter ihnen weilte und nicht auf dem Meer den Tod gefunden hatte, grenzte fast an ein Wunder. Glaubte man seinen Worten – und niemand zweifelte daran –, hatte er seine Rettung damals einzig und allein einem Delfin zu verdanken gehabt.
Nachdem er einen Tag und eine Nacht auf dem Meer verbracht hatte, war der Delfin aufgetaucht und hatte das Boot ein Stück begleitet. Froh, nicht ganz allein zu sein, hatte ihr Großvater begonnen, mit dem Delfin zu reden, und hatte ihn mit den Fischen gefüttert, die er gefangen hatte. Wie er es bei einem Freund getan hätte, hatte er dem Delfin von seinem Unglück erzählt, von seiner Familie, die er so sehr vermisste, und von der Insel, die seine Heimat war und die er nun wohl niemals wiedersehen würde.
Noch bis zu seinem Tod war ihr Großvater fest davon überzeugt gewesen, dass die Götter selbst den Delfin zu ihm geschickt hatten und dass dieser jedes seiner Worte verstanden hatte. Nur so konnte er es sich erklären, dass sich der Delfin eines der Taue geschnappt
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