Kristall der Macht
mit dem zerschlissenen Ärmel ihres Gewandes fort und blinzelte, um besser sehen zu können.
Nahe dem Eingang drängten sich etwa zwanzig Männer, Frauen und Kinder, schweigend und mit Blicken, die nur erahnen ließen, was sie in den vergangenen Stunden durchgemacht hatten. Alle hatten eine Decke um den Körper geschlungen und hielten einen Becher mit heißem Tee in den Händen. Unsicher schauten sie sich um und suchten sich schließlich einen freien Platz nahe dem Eingang, wo sie sich hinsetzten oder niederlegten, zu schwach, um miteinander zu reden, und froh, in Sicherheit zu sein.
Ihre Ankunft blieb auch bei den anderen nicht unbemerkt. Aus den Augenwinkeln sah Noelani, dass viele der Geretteten sich aufgerichtet hatten und aus dem Halbdunkel zum von Fackeln erhellten Eingang blickten. »Vater!« Ein Halbwüchsiger sprang auf, stürmte auf die Neuankömmlinge zu und wurde von einem der Männer überglücklich in die Arme geschlossen.
»Mein Junge, du lebst!«
Das Wiedersehen der beiden rührte Noelani, und sie spürte erneut Tränen in den Augen. Diese beiden hatten Glück gehabt. Die meisten aber würden wohl vergeblich auf Angehörige und Freunde warten.
»Das ist schon das fünfte Floß, das sie entdeckt haben«, erklärte Jamak, ohne dass Noelani ihn danach gefragt hatte. »Das Boot, auf dem ich gewesen bin, haben sie als Erstes an Bord geholt. Da war es noch hell. Es war eine Rettung aus höchster Not. Die Nacht hätten wir nicht überlebt. Die Plattform war geborsten, und alle Boote darunter waren leckgeschlagen. Nur die Kinder saßen noch im Trocknen. Alle anderen klammerten sich an die Wrackteile … Wir hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben. Als wir dann das Schiff am Horizont sahen, haben wir geschrien und gewunken. Es grenzt an ein Wunder, aber sie haben uns tatsächlich bemerkt und gerettet. Ich habe mit dem Kapitän gesprochen und ihm von unserer Flucht erzählt. Daraufhin hat er mir versprochen, nach anderen Überlebenden zu suchen. Zwei Boote, die ganz in der Nähe waren, konnte er schnell finden. Dann wurde es dunkel. Ich fürchtete schon, dass er die Suche abbrechen würde, aber er hielt weiter Ausschau. Dann entdeckte er euer Floß, und nun hat er sogar noch ein weiteres gefunden.« Er lächelte. »Dieser Kapitän ist wirklich ein guter Mann.«
Noelani wusste, dass Jamak ihr das auch erzählte, um sie zu trösten, aber es war zu viel geschehen. Selbst wenn es Überlebende gab, änderte es nichts daran, dass sie großes Unheil über das ohnehin schon vom Schicksal hart gezeichnete Volk von Nintau gebracht hatte.
»Wie viele?« Sie blickte Jamak fragend an.
»Ich verstehe nicht …«
»Wie viele von uns sind hier?«
»Bevor ihr an Bord gekommen seid, waren wir einundsechzig«, sagte Jamak. »Auf deinem Boot waren zwanzig, und wenn ich richtig gezählt habe, sind eben noch siebzehn gerettet worden.«
»Achtundneunzig«, rechnete Noelani nach und sagte leise: »Von einhundertfünfzig.« Sie seufzte. »So wenige …«
»So darfst du das nicht sehen. Es sind viele«, korrigierte Jamak. »Wir hätten alle tot sein können.«
»Wir hätten alle am Leben sein können, wenn wir auf Nintau geblieben wären«, erwiderte Noelani verbittert. »Wir hätten es nicht leicht gehabt, aber wir hätten überlebt, so wie unsere Ahnen damals auch überlebt haben.« Sie schluchzte auf. »Sie haben mir ihr Leben anvertraut, und ich habe versagt. Oh, Jamak. Was habe ich getan? Was habe ich nur getan?«
»Du hast getan, was du für richtig hieltest«, erwiderte Jamak ruhig und ohne jeden Vorwurf in der Stimme. »Wir wussten alle um die Gefahren der Reise, und jedem stand es frei, auf Nintau zu bleiben. Aber keiner von uns wollte das. Wir konnten dort nicht weiterleben. Den Weg übers Meer zu wagen, das war unsere eigene freie Entscheidung. Du darfst dir deshalb keine Vorwürfe machen. Dass die Regenzeit in diesem Jahr so früh und vor allem mit einem so heftigen Sturm beginnen würde, konnte wirklich niemand vorhersehen.«
Noelani antwortete nicht. Jamaks Worte zogen an ihr vorbei, erreichten sie aber nicht. Sie saß einfach nur da, starrte ins Halbdunkel und wünschte, sie könne alles ungeschehen machen.
7
Den Mann, der vor ihm stand, sah Taro nicht. Nur die Augen, diese furchtbaren eisblauen Augen, die ihn in der von ihm so gefürchteten Strenge fixierten. Er wollte wegsehen. Zu Boden. Aber er konnte es nicht. Er hatte Angst. Furchtbare Angst.
»Tu es!«, forderte die Stimme, die zu den eisblauen
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