Kristall der Träume
sie nicht geschlafen hatte, fühlte sie sich am Morgen auf merkwürdige Weise erfrischt. Mit festem Schritt ging sie aus dem Kloster hinaus, bester Absicht und guten Mutes, denn bei sich trug sie den blauen Stein der heiligen Amelia.
Als sie in den Hauptweg einbog, sah Winifred, dass sie doch nicht allein gehen würde. Sie reihte sich ein in einen Zug von Pilgern auf dem Weg zum Kloster des Wahren Kreuzes – und sie hatten St.
Amelia links liegen lassen. »Wir müssen bis Mittag im Kloster sein«, erklärte ihr Anführer. »Dann decken die guten Schwestern den Tisch. Wie man mir sagte, werden wir uns heute an Hammel und Brot satt essen können.« Dann bemerkte er Winifreds Habit, und langsam dämmerte ihm, wen er vor sich hatte. Mit vor Verlegenheit knallrotem Gesicht flüchtete er sich in eine faule Ausrede und hastete an die Spitze des Zuges.
Immer mehr Leute schlossen sich dem Tross an: Bauersleute mit ihren Erzeugnissen für den Markt in Portminster, Ritter mit Gefolgschaft, adlige Damen in verhängten Sänften. Der Zug wand sich durch Weißdorn-, Ulmen- und Buchenwälder, dazwischen öffneten sich Täler, die den Blick auf Felder voller Glockenblumen, auf Bäche und kleine Weiher freigaben. An einigen Stellen zweigten Fußwege zu Bauernhäusern und Schafkoppeln ab. An anderer Stelle trafen ihre Schritte auf Pflastersteine älterer Machart, die von der römischen Legion seinerzeit gelegt worden waren. Und inmitten all dieser Leute und der zarten Farben des Frühlings, in der gesunden Waldluft und erfüllt vom Gesang der Vögel, spürte Winifred ihre Zuversicht wachsen. Sie tat genau das Richtige, obwohl der Abt, hätte er davon gewusst, es Ungehorsam genannt hätte. Die älteren Leute im Tross sprachen von Wikingern, hünenhaften blondbärtigen Teufeln mit roten Umhängen über Kettenpanzern, die, wie man sich erzählte, im Blutrausch, wie wahnsinnige Wölfe, über alles hergefallen waren. Die Erinnerungen an die Wikinger verlieh diesen Alten eine Art Prestige, denn dreißig Jahre zuvor hatten die Dänen in der entscheidenden Schlacht von Maldon mit der Hilfe von Norwegens gefürchtetstem Wikingerkönig Olaf die Angelsachsen besiegt und England in Schutt und Asche gelegt. Zwar gehörte der Sturz von König Ethelred durch den Dänenkönig Sven Gabelbart, der Knut den Großen auf den Thron brachte, zur neueren Geschichte, doch hatten die jüngeren Reisenden keine Erfahrung mit derlei Ängsten. Obwohl es hier und da noch zu vereinzelten Überfällen durch Wikinger kam, die den neuen Frieden mit England nicht akzeptieren wollten, war der ständige Terror der letzten hundert Jahre vorbei und England konnte nachts wieder ruhig schlafen. Und die Strophe »Herr, errette uns vor der Raserei der Nordmänner« war inzwischen aus den Gebeten verschwunden. Sie kamen an einen Wegweiser. Der eine Pfeil zeigte geradeaus, nach Portminster; ein anderer nach links, in Richtung May field, der dritte Pfeil, neueren Datums, wies nach rechts zum Kloster des Wahren Kreuzes.
Winifred hatte dem neuen Konvent keinen Besuch abstatten wollen, doch schon bewegten sich ihre Füße wie von selbst auf dem neu angelegten Weg, und sie fand sich inmitten der Pilgergruppe wieder, deren Gespräche nun darum kreisten, was sie wohl auf dem Mittagstisch der Nonnen erwarten würde.
Durch die Bäume konnte sie die Mauern erspähen, und das Erste, was Winifred hörte, war fröhliches Lachen aus Frauenkehlen. Es kam vom Konvent. Und dann vernahm sie Stimmen – Schnattern und Kreischen, wie von aufgeregten Hennen. Sie runzelte die Stirn.
Wie sollte man sich bei all dem Lärm auf geistliche Dinge konzentrieren? Als sie die äußere Wiese überquerte, blieb Winifred auf einmal regungslos stehen: Zwei junge Frauen in Novizinnentracht warfen einander laut lachend Bälle zu, während ihre Röcke sich unschicklich im Wind bauschten. Eine Dritte neckte einen kleinen Hund mit einem Knochen, gab vor, ihn zu werfen, und bog sich vor Lachen, als der kleine Kerl lospreschte. Zwei weitere junge Nonnen standen mit geschürzten Röcken auf Leitern in Apfelbäumen, riefen sich beim Pflücken fröhliche Worte zu. Nach dem Passieren des Hauptportals betrat Winifred den Innenhof, in dem geschäftiges Treiben mit Pilgern, Stadtleuten, adligen Damen und frommen Schwestern herrschte. Da standen Verkaufsbuden, in denen klösterlicher Tand angeboten wurde – bestickte Abzeichen für die Pilger als Nachweis, dass sie den Schrein besucht hatten, Phiolen mit geheiligtem
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