Kristall der Träume
mit großem Geschrei auf die Beute zu. Aber trotz der Steine, mit denen sie die Geier zu vertreiben suchten, waren die nicht minder hungrigen Raubvögel keineswegs gewillt, das Feld zu räumen. Mit gewaltigen Flügelschlägen und unter Einsatz ihrer Schnäbel und Krallen verteidigten sie ihre Beute. Erschöpft mussten die Menschen aufgeben. Einige von ihnen hatten von der Auseinandersetzung mit den Geiern blutende Wunden davongetragen.
Sie hockten sich wieder ins Gras, lauschten, ob sich Hyänen und wilde Hunde näherten, die mit Sicherheit auftauchen würden. Nach kurzer Dämmerung brach die Nacht herein, und noch immer hatten die Geier nicht genug. Die Große fuhr sich über die trockenen Lippen. Ihr Magen krampfte sich vor Hunger zusammen. Die Kleinen von Honigfinderin wimmerten. Und weiterhin hieß es warten. Endlich, als sich ein heller Mond am Horizont abzeichnete und die Landschaft in milchiges Licht tauchte, flogen die Geier gesättigt davon. Speere schwenkend und mit lauten Schreien gelang es den Menschen, die Hyänen von den Überresten des Zebras –
kaum mehr als Haut und Knochen – fern zu halten. In Windeseile machten sie sich daran, mit ihren scharfen Faustkeilen die Läufe vom Rumpf des Kadavers zu trennen. Mit diesen Trophäen entfernten sie sich schleunigst und überließen den Hyänen Sehnen und Fell. Im Schutz einer Baumgruppe wurde sogleich ein Feuer entzündet, zur Abschreckung der Raubtiere. Löwe und weitere starke Männer übernahmen es, die Läufe des Zebras zu enthäuten und anschließend die Knochen so kunstgerecht zu knacken, dass das darin befindliche dickflüssige rosa Mark zum Vorschein kam. Ein begehrliches Raunen erhob sich. Vergessen waren das stundenlange Ausharren im hohen Gras, die schmerzenden Gelenke und Glieder.
Zum Streit kam es nicht. Löwe teilte jedem eine Portion der fettreichen Delikatesse zu; auch Alte Mutter wurde bedacht.
Erneut versuchte die Große, Einwände gegen die eingeschlagene Richtung zu erheben, und diesmal verpasste ihr Löwe mit dem Handrücken einen so nachdrücklichen Schlag ins Gesicht, dass sie zu Boden stürzte. Die Familie raffte ihre spärliche Habe zusammen und brach auf, weiter gen Westen. Alte Mutter tätschelte ihrer Enkelin mit tröstenden Gurrlauten die brennende Wange. Die mit vulkanischem Rauch erfüllte Luft, die sie einatmeten, machte ihnen zu schaffen. Sie waren schon eine Weile unterwegs, als Alte Mutter plötzlich aufstöhnte und sich an die Brust griff, taumelte, nach Luft rang. Die Große hakte sie unter, aber bereits nach ein paar weiteren Schritten brach Alte Mutter stöhnend zusammen. Die anderen warfen ihr einen Blick zu, gingen aber weiter. Alte Mutter, die Mutter der Hälfte ihrer Mütter, bekümmerte sie nicht. Einzig die Große stand der Alten bei, stützte sie beim Gehen, lud sie sich zu guter Letzt auf den Rücken. Je höher die Äquatorsonne stieg, desto schwerer wurde die Last. Bis schließlich die Große trotz ihrer Statur und Kraft Alte Mutter nicht mehr tragen konnte. Sie sank mit ihr zu Boden. Die Familie, die notgedrungen Halt machte, stand unschlüssig um die beiden herum. Löwe beugte sich über die bewusstlose Alte und schnupperte an ihrem Gesicht herum, klatschte ihr auf die Wangen und öffnete ihr gewaltsam den Mund. »Hmp«, brummte er mit einem Blick auf die geschlossenen Augen und die blauen Lippen der alten Frau, »tot.« Was bedeuten sollte, dass sie so gut wie tot war. Er stand auf. »Wir gehen.« Einige Frauen brachen in Wehklagen aus. Andere wimmerten verängstigt. Honigfinderin stampfte mit den Füßen und hob unter schwermütigem Singsang die Arme. Dicknase legte die Hände auf seine bewusstlose Mutter und schluchzte. Beule hockte sich daneben und zupfte Alte Mutter immer wieder an den Armen. Die Kinder, denen das Verhalten der Erwachsenen unheimlich war, fingen an zu weinen. Löwe indes griff nach seinem Speer und der Keule, wandte sich ab und machte sich entschlossen wieder auf den Weg nach Westen. Einer nach dem anderen folgte ihm; die Letzten sahen sich nochmals zu der Großen um, die bei Alter Mutter zurückblieb. Die Große liebte Alte Mutter mit einer Heftigkeit, die sie selbst kaum verstand. Als ihre eigene Mutter wegen ihres gebrochenen Beins zurückgelassen worden war, hatte sie tagelang geweint. Bis Alte Mutter sie tröstend in die Arme geschlossen, sie mit Nahrung versorgt und ab dieser Zeit ihr Bettnest mit ihr geteilt hatte. Mutter meiner Mutter, sagte sich die Große und erfasste
Weitere Kostenlose Bücher