Kristall der Träume
unliebsame Begegnung mit einem Dornbusch zurückging, brach sie in lautes Gelächter aus.
Nachdem er seine Geschichte beendet hatte, überreichte er ihr, erfreut, sie zum Lachen gebracht zu haben, den toten Vogel.
Unvermittelt wurde die Große ernst. Eine lange zurückliegende Erinnerung überfiel sie, eine Erinnerung aus der Zeit, als Löwe noch nicht der Anführer gewesen war, auch Fluss noch nicht. Sie selbst war damals ein ganz kleines Mädchen gewesen, als zwei Fremde im Lager aufgetaucht waren. Sie stammten von jenseits der Bergkette, aus einer der Familie unbekannten Gegend. Nach anfänglicher Beklommenheit waren die beiden Männer in die Gruppe aufgenommen worden. Und bald darauf war es zu einem Kampf gekommen. Viel Blut war geflossen, und zum Schluss hatte der Anführer der Familie mit zerschlagenen Gliedern im Gras gelegen.
Der eine der beiden Fremden hatte seinen Platz eingenommen, und von da an war die Familie ihm gefolgt.
Hatte dieser Fremde hier etwa die Absicht, Löwe zu töten und sich zum neuen Anführer aufzuschwingen?
Schweigend musterte sie ihn und sah zu, wie Dorn mit Schleuder und Steinen weitere Enten zur Strecke brachte. Dann begaben sie sich gemeinsam in das Lager.
Die Familie jubelte auf, nach so vielen fleischlosen Tagen endlich wieder einmal Geflügel essen zu können. Aber erst einmal wurde der Fremde neugierig gemustert. Die Kinder verdrückten sich hinter die Beine der Mütter und beäugten ihn verschüchtert von dort aus, während ältere Mädchen ihn ungeniert anstarrten. Honigfinderin erkühnte sich sogar, Dorn an seinen Genitalien zu kitzeln, worauf er lachend zurückwich und der Großen einen Blick zuwarf. Als Löwe auf die Straußeneier deutete, die der Neuankömmling um seine Mitte trug, löste Dorn eins ab und reichte es ihm. Verwundert über das versiegelte Loch, entfernte Löwe den Verschluss, tauchte dann seinen Finger in das Innere des Eis und war verblüfft, anstatt auf Dotter auf Wasser zu stoßen. Daraufhin nahm Dorn das Ei wieder an sich, hielt es so, dass die Öffnung schräg nach unten zeigte, und ließ sich Wasser in den Mund laufen. Anschließend reichte er das Ei zurück an Löwe, damit auch der trinken konnte. Die Familie war verblüfft. Welcher Vogel legte Eier voller Wasser? Die Große indes begriff: Dorn hatte die leeren Schalen mit Wasser gefüllt. Daraus ergab sich für sie etwas noch Verblüffenderes, für das sie keine Worte hatte und das nur eine vage Vermutung war: Dorn trug gegen kommenden Durst Wasser bei sich.
Sie sengten den Enten über dem Feuer die Federn ab und brieten das Fleisch, und an diesem Abend hielt die Familie einen Festschmaus ab, der damit endete, dass man sich übermütig mit Geflügelknochen bewarf. Alte Mutter saugte genießerisch alles an Mark aus und labte sich an dem frischen Wasser aus den Straußeneiern. Sämtliche Frauen hatten nur Augen für den neu hinzugekommenen Jüngling, waren begeistert von seiner kräftigen Statur und seinen Possen. Und selbst die Männer akzeptierten fürs Erste den Eindringling in ihrer Mitte.
Die Familie verharrte am See und ernährte sich weiterhin von Dorns Enten. Dorn selbst, im Gegensatz zu den anderen Männern, die gelassen am Feuer hockten und Werkzeuge aus Stein herstellten und Speere schnitzten, war ständig in Bewegung und immer darauf aus, Aufmerksamkeit zu erregen. Der Großen kam er wie ein großes Kind vor, dem es vornehmlich darum ging, die anderen mit seinen Kapriolen zu erheitern. Ohne ersichtlichen Grund hüpfte und tollte, hampelte und alberte er herum. Erst ein paar Abende später dämmerte der Familie – und der Großen als Erster –, was es mit diesen Faxen auf sich hatte. Dorn erzählte Geschichten.
Das Publikum eines sehr viel späteren Zeitalters hätte ihn als Komödianten bezeichnet; die Familie der Großen jedoch war von dem, was er da zum Besten gab, gebannt. Unterhaltung dieser Art war ihnen fremd, und das Erzählen von Ereignissen aus der Vergangenheit noch fremder. Als sie aber nach und nach seine Gesten und Laute und seine Mimik zu deuten verstanden, gewann das, was ihnen da vorgespielt wurde, an Gestalt. Es waren einfache Geschichten, kurze Szenen, die davon handelten, wie nach erfolgreicher Jagd eine Giraffe im Triumphzug ins Lager geschleppt oder wie ein Kind gerade noch vor dem Ertrinken gerettet wurde, oder auch von einem so grausamen wie aussichtslosen Kampf mit einem Krokodil. Und es dauerte nicht lange, bis Dorn die Familie so weit hatte, dass sich
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