Kristall der Träume
Spiegel vor, wie sie mit einer Nähnadel durch das gestärkte Material fuhr, um ihm den richtigen Schwung zu geben. Aber am schockierendsten überhaupt waren die Hände der jungen Frau – unruhig, flatterig wie Schmetterlinge, die man mit Fäden festzubinden versuchte. Sie fuhren auf und ab, hin und her, wobei ihre Ärmel zurückfielen und die Arme bis über die Ellenbogen entblößten! Ganz offensichtlich hatte Rosamund keine Unterweisung in der Benediktinerordnung erfahren. Winifred wurde das Herz schwer. Wie sollte sie diesen frivolen Mädchen die heilige Kunst des Illuminierens nahe bringen?
Das war unmöglich. Sie würde dem Abt sagen, dass dieses neue Kloster eine Beleidigung für den Orden darstellte und dass er persönlich eingreifen müsse, um die Disziplin wiederherzustellen.
Winifred scherte sich nicht darum, wie reich Rosamunds Vater war; dieser Konvent war eine Beleidigung Gottes.
»Liebste Mutter Winifred, ich freue mich so sehr, dass Ihr nach all den Jahren im Dienste des Herrn den Mantel der Oberin ablegen und wieder eine einfache Schwester sein wollt.« Winifred stand wie versteinert. Wovon sprach das Mädchen überhaupt? Und dann überkam sie die Erkenntnis wie zuvor angesichts des blauen Kristalls: Natürlich konnte es keine zwei Oberinnen in einem Kloster geben! Der Abt hatte nichts Derartiges verlauten lassen und erwartete nun wohl von Winifred, dass sie ihre eigenen Schlussfolgerungen zöge. Dennoch kam es wie ein Schock. Ihren Titel zu verlieren und wieder in den Stand einer einfachen Schwester versetzt zu werden, dazu ein Mädchen, das jung genug war, als ihre Enkelin durchzugehen, mit »Oberin« anzureden – undenkbar!
»Nicht dass Ihr irgendwelche Pflichten hättet«, fuhr die junge Frau beiläufig fort. »Meine Mädchen warten schon darauf, diese wunderbare Kunst des Illuminierens zu erlernen.«
Winifreds Gedanken überschlugen sich. In Rosamunds Worten klang das alles wie ein Kinderspiel. »Es gehört mehr dazu, als nur Bilder malen«, erwiderte sie. »Ich werde sie darin unterweisen müssen, wie man Pigmente herstellt, wie man sie am besten…«
»Aber ja, mein Vater wird uns mit Farben versorgen! Genau dieselben, die in Winchester verwendet werden! Er wird sie uns jeden Monat persönlich vorbeibringen!«
Winifred fühlte sich kalt bis ins Mark. Pigmente zu verwenden, die von jemand anderem gemischt worden waren? »Ich beziehe meine Rohstoffe stets von Ibn Jaffar«, sagte sie in beinahe flehendem Ton. »Mit dem haben wir nichts zu tun«, erklärte Rosamund mit unverhüllter Verachtung. »Er hat meinen Vater beleidigt. Dieser Lump hat auf unserem Besitz nichts mehr zu suchen, und das gilt bis zum Hauptweg.«
Winifred glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Umgebung verschwamm vor ihren Augen, sie war einer Ohnmacht nahe. Nicht mehr Priorin ihres Klosters zu sein, nicht länger die Aufsicht über die Herstellung der Pigmente zu haben, die ihr Lebenswerk bedeuteten, war schon schlimm genug! Und nun das noch: Ibn Jaffar nie mehr wiederzusehen!
Als Rosamund ihre Gäste durch das neue Kloster führte und dabei fröhlich plappernd auf all die Annehmlichkeiten und den Luxus hinwies, nahm Winifred von alledem nichts mehr wahr. Sie schlich hinter den anderen her wie eine Frau, die plötzlich um zwei Jahrzehnte gealtert ist. In ihrem Kopf hämmerten Kummer, Enttäuschung und Schock.
Aber wie sie so von Raum zu Raum geführt wurde, durch einen Klostergarten und über einen sauber gepflasterten Weg, wechselte Schock zu Erkenntnis. Wie hatte sie nur glauben können, sie und ihre Ordensschwestern würden nie hierher ziehen? Es war eine andere Welt, eine wunderschöne Welt. Jedes Gästezimmer besaß ein eigenes necessarium – ein kleines Klosett an der Außenmauer, das über ein eigenes Abflussrohr verfügte. Was für ein Luxus, nicht bei Wind und Wetter nach draußen zu müssen, wenn die Natur es verlangte. Es gab Annehmlichkeiten, wie man sie nur aus noblen Häusern kannte: eingekerbte Kerzen, um die Zeit anzuzeigen, Laternen aus durchscheinendem Ochsenhorn, sauber gefegte, mit duftenden Binsen ausgelegte Böden. Und es gab Luxus: Im Wirtschaftshof hinter der Klosterküche waren Bedienstete damit beschäftigt, Laken, Kleidungsstücke und Unterkleider in hölzernen Bottichen in einer Lauge aus Holzasche und Ätznatron zu waschen.
Burschen arbeiteten auf den Gemüsefeldern, junge Frauen kümmerten sich um Gänse und Hühner. Ein alter Mann wurde eigens dafür bezahlt,
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