Kristall der Träume
Genüge tat. Die Roth’schen Bierkrüge waren für ihre schmucken, reich verzierten Deckel bekannt, auf denen sich stets das Motiv des Krugs wiederholte.
Als Katharina zwei Vettern der Roths dabei half, einen unhandlichen Ballen Verpackungsstroh in den Raum zu schleppen, machte sich Hans von hinten an sie heran, packte sie um die Taille und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Katharina kicherte und entwand sich seinem Griff, wobei sie tat, als hätte sie seine Tändelei genossen.
Insgeheim aber hoffte sie, er würde sie nicht so oft anfassen, wenn sie einmal verheiratet wären. Das schickte sich auch nicht für ein achtbares Ehepaar.
Katharina wollte sich gerade auf die späte Stunde und ihre Mutter herausreden, die auf sie wartete, als sie draußen plötzlich Schreie hörten. »Katharina! Katharina!«, schrie jemand in höchster Verzweiflung.
Sie trat aus der Tür und sah Manfred, den Sohn des Braumeisters, quer über den Platz rennen und so wild mit den Armen rudern, dass er aussah wie eine lebende Windmühle.
»Katharina! Komm schnell!«, schrie er. »Ein Unglück! Deine Mutter… «
Katharina rannte los. Manfred lief neben ihr her und stieß atemlos hervor: »Sie stand hinter der Bierkutsche, als das Pferd scheute. Ein Fass rollte herunter. Es stürzte auf deine Mutter. Der arabische Arzt ist bei ihr.«
Dafür dankte Katharina Gott im Stillen. Zu niemandem auf der Welt hatte sie ein solches Vertrauen wie zu dem alten Araber.
Doktor Mahmoud war vor achtundzwanzig Jahren aus Spanien geflohen, als Königin Isabella die Mauren aus dem Land vertrieb. Er hielt sich gerade zum Kauf von Arzneien im Norden auf, als ihn die Nachricht ereilte, dass seine ganze Familie ausgelöscht worden war und es für ihn zu gefährlich sei, nach Granada zurückzukehren.
Nachdem er ein Jahr lang durch Europa gewandert war, fand er eine neue Zuflucht in Torbach, wo ihm Isabella Bauer, die nur zu gut wusste, wie sich ein Fremder in einer fremden Stadt fühlt, freundlieh begegnete und viel dazu beitrug, dass ihn die Torbacher in ihrer Mitte aufnahmen.
Doktor Mahmoud erblickte Katharina als Ersten, als sie zur offenen Tür ihrer Kammer hereinstürzte. Der alte Araber trug das exotische Gewand seiner Kultur und auf seinem weißen Haar einen Turban. In einer Ecke betete Bruder Pastorius, ein junger Mönch von schwächlicher Gesundheit, der mit einem Klumpfuß geboren war.
Als Katharina ihre Mutter ohne Bewusstsein, mit einer blutigen Binde um die Stirn auf dem Bett liegen sah, trat sie an ihre Seite und fiel auf die Knie.
Isabella Bauer, die beste Näherin von ganz Torbach und Umgebung, hatte sich mit ihren achtunddreißig Jahren trotz eines Lebens voller Not und Entbehrungen ihr jugendliches Aussehen bewahrt. Wie sie mit geschlossenen Augen dalag, dem Tode nahe, sah sie sogar noch jünger aus als sonst, die Spuren, die das Alter und die Sorge in ihr Gesicht gegraben hatten, waren wie weggewischt, ihre blasse Haut schimmerte makellos. »Mama?«, flüsterte Katharina bang und ergriff die kalte, schlaffe Hand ihrer Mutter. »Mama?«, wiederholte sie etwas lauter. Sie blickte zu Doktor Mahmoud hoch, der mit ernster Miene neben ihr stand.
Katharina stand das Herz still. Ihre Mutter war das Einzige an Familie, was sie je gehabt hatte. Über ihren Vater wusste sie wenig.
Sie war noch ein Baby gewesen, als er einer Fieberepidemie zum Opfer fiel, die durch ihr Dorf im Norden fegte. Es gab nicht einmal ein Grab, das sie hätte besuchen können. Die Toten mussten damals verbrannt werden, damit die Seuche zum Stillstand kam. Ihre Mutter war mit ihr nach Süden geflohen und hatte sich in Torbach niedergelassen, und als Katharina heranwuchs, schweiften ihre grünen Augen immer wieder nach Norden, zur Biegung des Flusses und den nie gesehenen Gegenden, wo sie sich das Dorf und den gut aussehenden, lächelnden Mann vorstellte, der ihr Vater gewesen war.
Katharina und ihre Mutter gehörten nicht der wohlhabenden Kaufmannsschicht an, sondern mussten täglich um ihre Existenz kämpfen und oft auf das Nötigste verzichten. Isabella war häufig gezwungen, ihre Kunden aufzusuchen und um den Lohn, den sie ihr schuldeten, fast zu betteln. Dennoch betrachteten sie sich nicht als arm. Sie wohnten in einer kleinen Kammer über dem Brauhaus, dem einzigen Zuhause, das Katharina je gekannt hatte, begnügten sich mit geflickten Kleidern und ausgebesserten Schuhen, mussten zuweilen hungrig zu Bett gehen oder hatten im Winter nichts zu heizen, doch sie hielten sich
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