Kristall der Träume
wiedergegeben, sondern durch viele Schichten übereinander, als handelte es sich nicht um ein Abbild, sondern um den Stein selbst. Katharina konnte nicht wissen, dass die Miniatur vor fünfhundert Jahren in England von der Priorin Mutter Winifred gemalt worden war. »Dein Vater war wie ein reicher Mann gekleidet«, flüsterte Isabella.
»Möglicherweise war er ein Edelmann. Er hat mir einen Beutel Goldmünzen zurückgelassen. Ich habe nur wenige davon ausgegeben, nur so viel, dass wir uns hier in Torbach niederlassen konnten. Danach habe ich das Geld nicht mehr angerührt, denn es ist dein Erbe. Jahr für Jahr habe ich mir an deinem Geburtstag vorgenommen, dir die Wahrheit zu sagen. Aber ich brachte es einfach nicht über mich. Du bist zu einer Zeit in mein Leben getreten, als mich Kummer und Schmerz über den Verlust meiner eigenen Kinder verzehrten. Gott möge mir verzeihen, denn im tiefsten Winkel meines Herzens hoffte ich, dass dein Vater niemals zurückkehren würde. Aber jetzt, wo ich sterbe, hast du ein Recht auf die Wahrheit.«
»Still, Mama. Schon deine Kräfte. Wir können später reden.«
Isabella schüttelte den Kopf, was sie große Anstrengung kostete.
»Du hast mir nie gehört, Katharina. Ich sollte für dich sorgen, bis er dich holen käme. Doch er ist nicht zurückgekehrt. Vielleicht, weil er verwundet wurde, weil er krank ist oder irgendwo im Gefängnis liegt. Vielleicht betet er sogar in diesem Moment zu Gott, dass er euch zusammenführen möge.« Sie streckte ihre Hand aus und berührte Katharinas goldene Zöpfe. »Sein Haar war von derselben Farbe wie deines. Er hatte einen prächtigen blonden Bart, es war, als ginge bei seinem Anblick die Sonne auf. Sieh dir die Rückseite des Bildes an.« Katharina drehte die Miniatur um und las die Inschrift: Von Grünewald.
»Das ist der Name deiner Familie«, erklärte Isabella. »Siehst du… du warst nie für mich bestimmt. Dein Schicksal liegt anderswo.
Du musst deinen Vater finden, Katharina. Vielleicht ist er verwundet. Oder krank. Du musst zu ihm.«
»Aber ich kann dich nicht verlassen!«, rief Katharina. »Kind, es hätte nicht so weit kommen dürfen. Vielleicht wäre alles nicht passiert, wenn ich dir längst die Wahrheit erzählt hätte. Aber in meiner Selbstsucht habe ich geschwiegen. Jetzt muss ich für meine Schuld bezahlen. Der Fremde… er verdient es, seine Tochter bei sich zu haben.« Katharina begann zu schluchzen. »Aber wie soll ich ihn finden?«
»Er sagte, er würde auf die Suche nach dem blauen Stein gehen, der auf dieser Miniatur abgebildet ist. Er erzählte mir, er bräche nach Jerusalem auf, wo er den Stein vermutete. Finde ihn…« Isabella rang nach Atem. »Finde du den blauen Stein, dann wirst du auch deinen Vater finden. Wenn du diese Miniatur mit ihrem Gegenstück zusammenbringst, dann hast du ihn gefunden, so Gott will.«
Ihre zarte Hand, die so viele wunderschöne Blumen und Vögel und Schmetterlinge gestickt hatte, lag bebend auf der Wange ihrer Tochter. »Versprich mir, dass du gehen wirst, Katharina. Wohin der blaue Stein dich auch führt, dort wirst du deine Bestimmung finden.«
Mit diesen Worten tat Isabella ihren letzten Atemzug. Katharina warf sich über ihre tote Mutter und weinte verzweifelt, während Doktor Mahmoud und Bruder Pastorius dafür sorgten, dass sich die Menge und Braumeister Müller leise zurückzogen. Isabella Bauer bekam ein Grab auf dem Dorffriedhof und eine Beerdigung, bei der so mancher ihrer Kunden ihr Geschick pries und sich des Besitzes vieler edler Spitzenkragen, Taschentücher und Wäschestücke rühmte, die von ihrer begabten Hand verziert worden waren. Dieselben Bürger, die Isabella Bauer und ihre Tochter einst stundenlang am Dienstboteneingang ihrer Häuser hatten warten lassen und der Näherin oft den Lohn für ihre wochenlange Arbeit vorenthielten, überschlugen sich nun mit Beileidsbekundungen. Sobald sie erfahren hatten, dass Katharina womöglich edler Herkunft war und ein kleines Vermögen geerbt hatte, behandelten sie sie mit großer Ehrerbietung.
Katharina durchlebte die folgenden Tage wie versteinert, betäubt durch den Schock, den ihr diese plötzliche und unerwartete Wendung ihres Lebens versetzt hatte. Erst als sie aus ihrer Trauer ein wenig auftauchte, setzte auch das große Staunen über die unglaubliche Geschichte ein, die ihre Mutter ihr erzählt hatte. Ob sie wohl wahr wäre? So kam es, dass Katharina zum ersten Mal in ihrem Leben Torbach verließ und in Begleitung
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