Kristall der Träume
von einem Taschendieb bestohlen, der ihn um zwei Goldstücke und einen blauen Kristall erleichterte.
An einem warmen Sommertag im Jahre 1480 versammelte sich eine Menschenmenge auf den Hügeln bei Florenz, um einen achtundzwanzig Jahre alten Tüftler zu bestaunten, der seine neueste Erfindung vorführte, »ein Zelt aus beschichtetem Tuch«, das später Fallschirm genannt wurde. Unter den Zuschauern schloss manch einer eine Wette darauf ab, dass der junge Idiot sich das Genick brechen würde. Doch Leonardo da Vinci landete ohne Missgeschick auf dem Gras, und der blaue Kristall wanderte so von der Hand eines Medici-Fürsten in die Tasche eines reisenden Gelehrten, der den funkelnden Edelstein nach Jerusalem zurückbrachte. Er war als Geschenk für seine geliebte Tochter gedacht, die jedoch während seiner Abwesenheit im Kindbett gestorben war. Ihr Tod erfüllte ihn mit solcher Bitterkeit, dass er den verhassten Kristall, der ihn an sein einziges Kind erinnerte, wegschloss. Und da lag er nun, in einer goldenen Schatulle in einer großzügigen Villa auf einem Hügel über dem Felsendom, und wartete auf seinen neuen Besitzer, auf seine nächste Schicksalswende.
SECHSTES BUCH
Deutschland
Im Jahre 1520
Auf die Frage, warum sie Hans Roth denn heiraten wolle, hätte Katharina Bauer geantwortet: »Meiner Treu: Aus Liebe! « In Wahrheit aber steckte der leidenschaftliche Wunsch nach einer Familie dahinter.
Eine Frau »Schwester« oder »Tante«, einen Mann »Bruder« oder
»Onkel« nennen zu dürfen, Cousinen, Neffen und Nichten in ihre Arme zu schließen, das war Katharina Bauers großer Traum. Die Siebzehnjährige war das einzige Kind einer Witwe, die eine bescheidene Kammer über einer Brauerei bewohnte, und bei jeder Sternschnuppe, bei jedem vierblättrigen Kleeblatt, bei jedem Glücksbringer wünschte sich Katharina, im Schoß einer großen, glücklichen Familie aufgehoben zu sein. Der zweiundzwanzigjährige Hans Roth mit den kornblumenblauen Augen besaß eben zufällig eine solche Familie.
Hans war eines der fünf Kinder – drei Söhne und zwei Töchter –
des Bierkrugmachers Meister Roth und seiner Gattin. Ihr Haus mit den zahlreichen Verwandten, Schwägern, Schwägerinnen und entfernteren Familienangehörigen, die alle bei der Herstellung und beim Verkauf der Bierkrüge mithalfen, summte wie ein Bienenstock.
An Tagen, wenn das Geschäft überhand nahm, durfte Katharina dort aushelfen (ohne Lohn, versteht sich). Sie fühlte sich bereits wie ein Mitglied der Großfamilie und hoffte insgeheim, nächstes Jahr um die gleiche Zeit dürfe sie zu Meister Roth endlich »Vater« sagen. Das war doch die wahre Liebe, sinnierte Katharina, während sie selig beschwingt ihrem Hans im Trockenraum zur Hand ging. Dieses Gefühl ruhiger Freude und tiefer innerer Zufriedenheit. Sie hatte es bei älteren Paaren beobachtet, Paaren, die seit einer Ewigkeit miteinander verheiratet waren. Was hatten sie und Hans doch für ein Glück, dass sie schon von Anfang an so füreinander empfanden!
Was für ein harmonischer Lebensweg lag da vor ihnen! Jene andere Seite der Ehe – Bett und Kinder – schob Katharina in Gedanken lieber von sich weg, denn über einen Kuss ging ihr Verlangen nicht hinaus. In den wenigen Augenblicken, in denen sie und Hans sich wegstehlen konnten, im Wald oder drunten am Fluss allein miteinander waren und Hans’ Hände sich verirrten, bremste ihn Katharina und erinnerte daran, dass sie einander noch nicht angetraut waren. Aber wenn der Zeitpunkt gekommen wäre, würde sie ihre Pflicht tun und die kurze körperliche Vereinigung dulden, die für die Zeugung von Nachwuchs vonnöten wäre. Während sie die Bierkrugrohlinge von den Trockengestellen hob, zogen köstliche Düfte durchs offene Fenster herein: Schweinekoteletts, die über dem Feuer brutzelten, Kohl, der im Kessel schmorte, gedünstete Möhren, frisch gebackenes Brot – Meisterin Roth bereitete das gewohnte deftige Mittagessen zu. Katharina würde nicht dazu eingeladen, denn Meisterin Roth war nicht für ihre Großzügigkeit bekannt. Doch Katharina hätte ohnehin abgelehnt, solange ihre Mutter zu Hause mit etwas Käse und einem Ei ein dürftiges Mahl für sie beide richtete.
Gelegentlich entlohnte ein zufriedener Kunde Isabella Bauer mit Würsten und Speiserüben, die sie so erfinderisch streckte, dass sie eine Woche lang davon satt wurden. An Brot mangelte es nie, und zum Glück wohnten sie über einer Brauerei, deren Besitzer Brauermeister Müller
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