Kristall der Träume
dass ein Mädchen auf geheimnisvolle Weise verschwand und nie wieder gesehen wurde, woraufhin von Ungehorsam, Missgunst und Eifersucht getuschelt wurde. Niemand erfuhr je, wohin diese Unglücklichen gebracht wurden, und niemand wagte es, Nachforschungen anzustellen. Katharina wurde aus dem Schlafsaal getragen, während die anderen Mädchen zusahen und dabei so taten, als schliefen sie, aus Angst, sie könnten dasselbe Schicksal erleiden, wenn sie Zeugen des Vorfalls würden. Doch draußen im Mondlicht setzte der Eunuch Katharina ab und bedeutete ihr, sie solle schweigen und ihm folgen. Er brachte sie in ein Gemach in einem abgesonderten Palastflügel, wo nur in hoher Gunst stehende Konkubinen lebten, und Katharina staunte über den verschwenderischen Reichtum. Dieses innere Heiligtum stellte mit seinen kostbaren Teppichen und Wandbehängen, den mit Kissen übersäten Diwanen und den vergoldeten Möbeln alles in den Schatten, was sie bisher gesehen hatte. Wer hier wohnte, war reich und mächtig.
Und dann erschien sie – eine junge Frau, die nicht viel älter war als Katharina selbst, schlank und wunderschön, in ein seidenes Gewand aus Rottönen gekleidet, dessen Kanten mit Goldborten eingefasst waren. »Gottes Friede sei mit dir«, begrüßte die junge Frau sie mit einem Lächeln. »Bitte nimm deinen Schleier ab.«
Katharina tat, wie ihr geheißen, und entblößte ihr langes Haar, das in kunstvoll geflochtenen Zöpfen um ihren Kopf gewunden war. »Und deinen Hut«, kam der zweite Befehl, obwohl er mehr wie eine Bitte klang, und Katharina nahm das kleine, wie eine runde Schachtel geformte Seidenhütchen ab, mit dem sie ihren Scheitel bedeckte.
Die Konkubine musterte sie einen Augenblick und brach dann in ein freundliches Lachen aus. »Du siehst ja aus, als würdest du ein gelbes Käppchen tragen! «
Katharina errötete. Alle Mädchen neckten sie deswegen; sie konnten sich gar nicht satt hören an Katharinas Geschichte, wie sie sich als Ägypterjunge verkleiden und deshalb ihre Haare dunkel färben musste. Ein nie versiegender Quell der Heiterkeit aber war die allmählich herauswachsende Farbe: Die ersten paar Zentimeter ihres Haars hatten ihre goldblonde Naturfarbe, während die längeren Zöpfe immer noch schlammig braun waren.
»Mein Eunuch hat mir erzählt, du wärest blond«, sagte die junge Frau. Sie streckte ihre Hand aus. »Bitte setz dich, mach es dir bequem.« Sie gab den Dienerinnen ein Zeichen, in die winzigen Tässchen Kaffee einzuschenken, den Katharina allerdings immer noch kaum genießbar fand.
»Ich habe dich eine Weile beobachtet«, fuhr ihre geheimnisvolle Gastgeberin fort. »Vielmehr hat mein Eunuch dich beobachtet und mir Bericht erstattet.« Sie nippte zierlich an ihrem Getränk. »Du hast dich keiner Clique angeschlossen. Es gibt keine Konkubine, die sich rühmen kann, dich, wie man sagt, in der Tasche zu haben. Das lässt auf Charakterstärke schließen, sind doch manche Damen beim Rekrutieren von Gefolgsleuten äußerst hartnäckig. Du aber hast deine persönliche Unabhängigkeit bewahrt, eine Seltenheit im Harem.« Sie sprach Arabisch, das Katharina inzwischen recht gut beherrschte; sie konnte ihre Gastgeberin verstehen und sich ihrerseits angemessen verständigen. »Was wünscht die Sultanin von mir?«, fragte sie. Katharina wusste, dass sich die osmanischen Sultane längst nicht mehr um die Ehe scherten und es seit Jahrhunderten in dieser Dynastie keine Hochzeit mehr gegeben hatte.
Lieblingskonkubinen erlangten jedoch einen besonderen Rang, und weil es keine bessere Anrede gab, wurde die jeweilige Lieblingskonkubine mit dem Ehrentitel »Sultanin« angesprochen.
Die junge Frau verbesserte sie: »Ich bin nicht die Sultanin, komme aber in der Rangfolge gleich nach ihr. Mein Name ist Asmahan, und ich habe dich hierher bringen lassen, um dich um einen Gefallen zu bitten.«
Katharina war sofort auf der Hut. »Einen Gefallen, Herrin?«
Asmahan sprach mit leiser, lieblicher Stimme. »Ich wurde vor acht Jahren aus meiner Heimat Samarkand entführt und in das Haus des Sultans verkauft. Wie du wurde ich Gefangene im Harem und sollte den Rest meiner Tage dort verbringen. Doch ich hatte Glück – ich wurde für eine Nacht zum Sultan gerufen. Wie du weißt, steigen solche Frauen im Rang auf, auch wenn sie den Sultan nie wieder sehen. Doch ich – Gott sei gepriesen – wurde schwanger. Neun Monate lang wurde ich gehätschelt und verwöhnt und beobachtet: Alle warteten, ob ich einen Jungen oder
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