Kristall der Träume
»Aber ich muss doch nach Jerusalem!«
»Wohin? Wo liegt denn das?«
Einen Moment lang verschlug es Katharina die Sprache. Es konnte doch niemanden auf der Welt geben, der noch nicht von Jerusalem gehört hatte! »Das ist eine Stadt«, begann sie, doch eine ungeduldig wedelnde Hand schnitt ihr das Wort ab.
»Wenn Ihr mit allen Euren Geschichten fertig seid, dann könnt Ihr abreisen.«
»Ich werde Geld für die Reise brauchen.«
Die Matrone zuckte mit den Achseln. »Davon haben wir nun wirklich genügend. Jede Eurer Geschichten vergüten wir Euch mit einer goldenen Münze.«
Langsam begriff Katharina, welches erlauchte Publikum da vor ihr gesessen hatte: der Himmlische Herrscher – der König von Zhandu höchstpersönlich – und seine Schwester Sommerrose.
Als Katharina am ersten Erzählabend mit ihrer Tochter zu den königlichen Gemächern geführt wurde, blieb ihr vor Schreck die Luft weg: Sie hatte nur den König und seine Schwester erwartet, sah jedoch eine mehrhundertköpfige Zuhörerschaft vor sich versammelt.
Doch sie fand gleich wieder zu ihrem Mutterwitz zurück. Im Grunde spielte es keine Rolle, ob man eine Geschichte einem Kind oder dreihundert Erwachsenen erzählte: Man musste ihre Neugier wecken, ihnen einen Helden vorsetzen, sie durch Andeutungen in atemloser Spannung halten und schließlich mit einem glücklichen Ausgang belohnen. Während Katharina ihre Geschichten fortspann, tauchten etliche Schreiber an ihren Pulten emsig die Feder in die Tinte und hielten Katharinas Worte in der verschnörkelten Kalligraphie der Zhandu-Sprache fest. Wie man ihr später erklärte, sollten von diesen Schriftrollen Kopien angefertigt und im ganzen Königreich verteilt werden, damit auch die Bewohner der entlegensten Winkel in den Genuss dieser Erzählungen kämen, die andere Schriftkundige ihnen vorlesen würden.
Katharina erzählte dem Himmlischen Herrscher und seinem Hofstaat Geschichten aus den Wäldern ihrer Heimat – vom Froschkönig, von Schneewittchen und den sieben Zwergen, von Aschenputtel. Und als der Schatz der deutschen Märchen erschöpft war, berichtete sie vom Leben Jesu und der Heiligen, anschließend von Mohammed, über den sie in Konstantinopel vieles gehört hatte.
Am besten kamen Erzählungen mit Fabelwesen an, sprechende Kröten, tanzende Esel, fliegende Pferde oder böse Riesen, die unter Brücken kauerten und Reisenden auflauerten. Und Wunder und Verwünschungen, am besten haufenweise. Jeden Abend versetzte Katharina ein wachsendes Publikum in Entzücken, und tags darauf wurde sie stets mit der versprochenen Goldmünze, üppigen Speisen und der Freiheit belohnt, nach Belieben durch die Stadt zu streifen.
Im Stillen dachte sie sich, dass die Menschen im Grunde auf der ganzen Welt gleich waren, die Bauern in Deutschland wie die weisen Alten im verschlossenen Königreich auf dem Dach der Welt: Sie alle lachten über Mäuse, die Katzen eins auswischten, weinten über den Tod schöner Heldinnen und jubelten über die Siege tapferer Prinzen.
Sie hielten entsetzt den Atem an, wenn die böse Königin das Herz Schneewittchens zu verspeisen glaubte, schrien: »Pass auf!«, wenn Rotkäppchen im Wald dem Wolf begegnete, gruselten sich, wenn Katharina die großen dunklen Wälder schilderte, wo Ungetier und Riesen wohnten, spotteten über den Fuchs, der als schlechter Verlierer die sauren Trauben verschmähte, klatschten Beifall, wenn der heroische Siegfried den Drachen besiegte. Am beliebtesten jedoch war die Geschichte vom Mädchen, das seiner Mutter am Totenbett versprach, sich auf die Suche nach seinem Vater aufzumachen, und unterwegs viele Abenteuer und Fährnisse bestehen musste. Da Katharina nicht zu Ende erzählte, wurde sie von allen Seiten bestürmt:
»Hat sie ihren Vater denn nun gefunden?« Katharina gestand, es handle sich um ihre eigene Geschichte. Da klatschten alle Beifall und erklärten sie zur besten Geschichte von allen. Zum ersten Mal seit der Zeit mit Adriano am Smaragdfluss empfand Katharina etwas wie Glück. Mit seinen verschneiten Berggipfeln, den moosbewachsenen Tälern, den goldenen Kuppeln und Türmen aus Elfenbein bot Zhandu ein großartiges Schauspiel. Alles trug freundlich klingende Namen: das Jadetor, der Palast Himmlischer Glückseligkeit, der Saal Freudiger Beschaulichkeit. Die wenigen Besucher, die aus der Außenwelt empfangen wurden, führte man als Erstes vor den Spiegel der Verborgenen Wahrheiten, wo ein Magier, der so genannte Wu, aus dem Spiegelbild seine
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