Kristall der Träume
sie an.
»Wir wussten nicht, wohin… «
Sie bellte den Wachen einen knappen Befehl zu, die daraufhin einen drohenden Schritt näher rückten.
»Bitte, Herrin«, flehte Katharina, »lasst uns nur kurze Zeit bleiben. Meinem Kind geht es nicht gut.«
»Damit habe ich nichts zu schaffen«, sagte die Frau. »Ganz im Gegenteil! Euretwegen wurde ich von den Kosch hierher gebracht, sie haben mich an Euch verkauft.«
»Das schon, aber wir haben keine Verwendung für dich! Also verschwinde! «
»Das kann ich nicht! Mein Kind ist zu schwach!« Die Mandelaugen blitzten Adriana an. »Was ist los damit?«
»Die Kosch haben uns nichts Richtiges zu essen gegeben, nur Abfälle, die die Hunde nicht mehr wollten. Schon als Baby musste Adriana hungern. Jetzt muss sie erst wieder zu Kräften kommen.«
»Die Kosch sind Schweine«, zischte die Frau auf Kosch.
»Trotzdem können wir dich hier nicht brauchen! «
»Aber ich kann arbeiten und unseren Lebensunterhalt verdienen«, sprudelte Katharina verzweifelt hervor. »Ich kann sticken! Sehr gut sogar!«
»Pah! Für mich sticken schon tausend Frauen! Ich sticke sogar selbst, und wetten, besser als du!« Die Himmlische Schwester wandte sich brüsk zum Gehen, doch der Alte hielt sie auf, zupfte sie am Ärmel und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie drehte sich noch einmal um und fixierte Katharina mit schmalen Augen. »Mein Bruder sagt, du erzählst Geschichten. Was sind denn das für Geschichten?« Katharina ging sofort in Abwehrhaltung. Galten Geschichten in diesem Palast etwa als Verbrechen? »Nur Kindergeschichten, Märchen, ohne jede böse Absicht«, wiegelte sie ab. »Dann erzähl mir eine.«
Was waren die Zhandu nur für Leute, die sich vor Geschichten fürchteten? »Ich kenne nur Märchen, Herrin. Ganz simple Erzählungen.«
»Lass hören.« Und zu Katharinas Überraschung ließ sich die Matrone im Schneidersitz auf dem Boden nieder, genau wie ihr Bruder zuvor.
Katharina kramte in ihrem Gedächtnis nach der harmlosesten Geschichte, die sie kannte, damit sie ja nicht unbeabsichtigt Anstoß erregen und in den Kerker geworfen würde. Sie entschied sich für Rumpelstilzchen. Und als sie endete und erzählte, wie die Müllerstochter das verschlagene Rumpelstilzchen übertölpelte, lachten alle und klatschten begeistert in die Hände, von Adriana bis hin zu den grimmigsten Wachmännern.
Die Frau war wie ausgewechselt. »Eine gute Geschichte«, lobte sie, und ihr rundes Gesicht strahlte wie die Sonne. »Jetzt die nächste.«
»Aber Herrin, meine Tochter ist müde und schwach, wir sind beide erschöpft.«
»Eine letzte Geschichte, dann könnt ihr schlafen gehen.« Bei der Geschichte von der Schildkröte und dem Hasen war Adriana schon nach halber Strecke in Katharinas Armen eingeschlummert. Doch das seltsame Publikum blieb hellwach und hingerissen, atmete und blinzelte kaum, während es an Katharinas Lippen hing. Und als sie endlich beim Schluss anlangte, lachten und jubelten alle über die schlaue Schildkröte.
Katharina wunderte sich über diese Begeisterung für Geschichten, die sie für Allgemeingut gehalten hatte. Zu Hause konnte man derlei Kinderkram nur den Allerjüngsten vorsetzen, jeder andere hätte gegähnt und nach frischer Kost verlangt. Lag es vielleicht an der selbst auferlegten Isolation vom Rest der Menschheit, dass bei den Zhandu ein solcher Mangel an Geschichten herrschte? Waren sie ihrer eigenen Mythen und Legenden überdrüssig geworden, sodass sie begierig auf Neues warten wie andere Völker auf Gold und Wein? Die Himmlische Schwester erhob sich. »Ihr könnt bleiben«, sagte sie zu Katharina, und in ihrer Stimme schwang neue Achtung mit. »Ihr werdet uns Geschichten erzählen.«
Katharina schöpfte Hoffnung, ihre Gedanken überschlugen sich.
»Bekommen wir ein eigenes Zimmer?«
»Solange Ihr uns etwas zu erzählen habt.«
»Und Essen für meine Kleine?«
Die Dame warf einen schrägen Blick auf die schlafende Adriana und zog missbilligend die Nase kraus. »Ein richtiger Spatz. Muss schleunigst rausgefüttert werden. Erzählt uns schöne Geschichten, dann bekommt Ihr schöne Gemächer, schöne Kleider und schöne Portionen auf den Teller.« Sie lachte über ihre eigenen Worte. »Mein Bruder ist sehr glücklich«, gurrte sie und tätschelte dem Alten den Arm. »Er wird dafür sorgen, dass auch Ihr glücklich seid.« Doch als die Himmlische Schwester hinzufügte: »Ihr werdet für immer bei uns bleiben«, schlug Katharinas Erleichterung in Panik um.
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