Kristall der Träume
Schlüsse über die Tugenden des Gasts zog. Jeden Abend erschuf ein ganzes Heer von Köchen wahre Speisenwunder: Türme aus gesponnenem Zucker, zu Blüten und Tieren geformtes Marzipan, bunte Kuchen, die auf der Zunge zergingen. Kostbarer, seltener Fischrogen, den Boten in anstrengenden Etappen weit aus dem Norden herbeischafften, wurde auf duftenden Brötchen angerichtet. Zur Kühlung des Weins wurde Schnee von den Bergen geholt. Katharina erkannte, dass es nichts gab, was die Außenwelt den Bewohnern Zhandus zu bieten hätte: Hier wuchsen Bäume, die das ganze Jahr über Früchte und Nüsse trugen, Getreide und Gemüse gedieh auf den Äckern, man hatte Wildbret im Überfluss und einen ganzen Wald von Bienenstöcken, aus denen Honig geerntet wurde. Aus nie versiegenden Quellen plätscherte frisches, reines Wasser. Handel wurde kaum getrieben: Zwar ritten Abgesandte des Reichs aus und prüften die angebotenen Waren, kehrten aber meist mit leeren Händen zurück. Zhandu besaß Seide, Juwelen, Nahrungsmittel und Wein im Überfluss, jeden Luxus, den man sich nur denken konnte.
Nur an Geschichten herrschte Mangel. Zum ersten Mal seit Generationen hatte ein Außenseiter etwas Neues nach Zhandu gebracht. Katharina und ihre Tochter erhielten prunkvolle Gemächer, in denen riesige Betten mit Bettzeug aus Seide standen, wurden mit neuen Kleidern und Schmuck ausgestattet, konnten essen, so viel sie wollten, und gehen, wohin sie wollten – solange sie nur abends in den Palast zurückkehrten und dem Himmlischen Herrscher seine Geschichte erzählten. Sie passten sich den Sitten und Gebräuchen der Zhandu an, und so kam Katharina auch hinter das Geheimnis der phantastischen Frisuren: Gestelle aus sehr dünner Jade wurden auf dem Kopf befestigt, die langen Haare darübergekämmt, durch künstliche Locken und Zöpfe ergänzt und mit stricknadelähnlichen langen Elfenbeinnadeln festgesteckt. Die Mutter und Tochter aus dem fernen Land trugen nun dieselben Gewänder und Pantoffeln mit hochgebogener Spitze, und langsam wuchs der Stapel der Goldmünzen, den Katharina nach getaner Arbeit stets durchzählte und allmählich ausrechnete, wie viele Tage bis zu ihrer Abreise noch vergehen müssten.
Während sie sich an das Leben in diesem bemerkenswerten Reich gewöhnten, ließen Adrianas Albträume allmählich nach – ihre Erinnerungen an einen nur so zum Spaß angezündeten Menschen, an die Kämpfe mit den Hunden um einen Brocken Nahrung, an die Tage, an denen man sie zur Strafe ihrer Mutter weggenommen hatte.
Sie wurde auch immer kräftiger und gesünder. Der Hofarzt untersuchte Adriana und stellte eine Blutarmut fest, die durch Unterernährung schon im Mutterleib entstanden war. Er verordnete ihr einen Spezialtee, der mit Unterstützung des Wassers, das Sommerroses Beteuerungen nach magische Kräfte besaß, und der reinen Höhenluft eine erstaunliche Heilwirkung entfaltete. Doch der Arzt warnte auch vor Gefahren, falls sie Zhandu verließen, da die Gesundheit des Kindes hier günstig beeinflusst und anderswo wieder aufs Spiel gesetzt würde. Katharina nahm sich seine Worte zu Herzen, denn nach den vielen harten Jahren, in denen sie ihr Töchterchen oft genug dem Tod nahe geglaubt hatte, sah sie, wie prächtig Adriana hier gedieh. Zum ersten Mal erlebte die Kleine ein stabiles, behütetes Zuhause, wie einst Katharina in Torbach. Hatte Katharina das Recht, ihrer Tochter diese Geborgenheit wieder zu entziehen?
Und so saß Katharina jeden Abend, wenn Adriana schlief und Ruhe in den Palast eingekehrt war, im Schein einer Lampe und starrte auf die Miniatur mit der heiligen Amelia und dem blauen Kristall. Jerusalem schien so weit weg, dass es immer unwirklicher wurde. Und an die fünfundzwanzig Jahre war es nun schon her, dass ihr Vater sie in der Obhut einer mittellosen Näherin zurückgelassen hatte. Ob er überhaupt noch lebte?
Nachdem sie ein Jahr in Zhandu verbracht hatten, zählte Katharina wieder einmal ihre Goldmünzen und überlegte, ob ihr Geld zum Aufbruch reichte. Da kam Sommerrose zu ihr und forderte sie auf: »Kommt mit.«
Katharina fasste ganz selbstverständlich nach Adrianas Hand, doch Sommerrose sagte: »Lasst das Kind hier. Es könnte sich ängstigen.« Katharina aber ging niemals ohne ihre Tochter fort, deshalb begleitete Adriana die beiden Frauen in einen Teil des Palasts, den Katharina noch nie betreten hatte. Vor einem verschlossenen und bewachten Tor blieb Sommerrose stehen und sagte ernst: »Ihr werdet erst über
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