Kristall der Träume
begann Katharina das Ritual, das sie seit Adrianas Geburt allabendlich wiederholte: Sie zog die Miniatur der heiligen Amelia und die Scherbe mit Torbach hervor und erzählte ihrer Tochter ihre Lebensgeschichte. Sie erzählte von Hans Roth, Isabella Bauer und den anderen Bewohnern des Städtchens, dann von der Familie, die auf sie wartete, wo sich der blaue Kristall befand: Dort wäre Adrianas Großvater und wohl auch viele Vettern und Basen, denn Isabella hatte von den Söhnen des Edelmanns gesprochen, die sicher geheiratet und Kinder bekommen hatten. »Und jetzt sag mir, wie du heißt«, forderte Katharina ihre Tochter Abend für Abend auf. Und jeden Abend antwortete Adriana: »Ich bin Adriana von Grünewald.«
Die Kleine begann zu gähnen, das Signal für die Gutenachtgeschichte, die dem Kind zu friedlichem Schlaf verhelfen sollte – oft wachte es mit Albträumen von den Kosch auf. »Es war einmal…«, begann Katharina und erzählte auf Kosch die Geschichte von der heiligen Amelia und dem blauen Kristall. Da sie vor dem Tod ihrer Mutter noch nie von dieser Heiligen gehört hatte und deren wahre Geschichte nicht kannte, hatte sie einfach eine erfunden. »Es lebte einmal in den Wäldern um Torbach eine herzensgute Frau namens Amelia. Sie war sehr arm und besaß nichts außer einem einzigen wertvollen Schatz: einem makellosen blauen Kristall, den Jesus ihr einst geschenkt hatte, als er hungrig durch die Wälder wanderte und Amelia ihm Brot und Wurst zu essen gab. Doch im Schloss hoch auf dem Berg lebte ein böser König, der den blauen Kristall in seinen Besitz bringen wollte… «
Die beiden Flüchtlinge, die sich in der vergessenen Waffenkammer versteckten, hatten keine Ahnung, dass ein alter Mann im langen weißen Gewand und weißen Pantoffeln durch die Gänge des Palasts geisterte, immer auf der Suche nach Stimmen, denen er lauschen konnte. Er presste ein Ohr ans Schlüsselloch, und als er ein paar Minuten später die Worte vernahm: »Und so lebten Amelia und der schöne Prinz glücklich bis an ihr Ende«, stieß er die Tür auf und klatschte in die Hände. Erschrocken fuhr Katharina hoch.
»Erzähl noch eine Geschichte«, forderte er sie in dem Kosch-Dialekt auf, der in Zhandu gesprochen wurde, und ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder.
Katharina starrte den Eindringling an. Er war uralt und hatte einen kugelrunden Kopf, der sie an eine Orange erinnerte und bis auf ein paar weiße Haarsträhnen vollkommen kahl war. Wie die Kosch besaß er Mandelaugen, die in schrägen Blinzelfältchen ausliefen, sodass er aussah, als würde er ständig lächeln. Alles an ihm wirkte rund: sein runder Bauch unter dem weißen Gewand, seine Knubbelnase, runde Bäckchen, die sich nach oben schoben, wenn er lächelte, was oft und grundlos geschah. Ob er wohl ein wenig einfältig war?
»Noch eine Geschichte!«, wiederholte er, bereits ein wenig verdrossen.
Katharina sah Adriana an, die ihrerseits den merkwürdigen Gast entgeistert anstarrte. Während ihres kurzen Lebens bei den Kosch hatte sie gelernt, in Anwesenheit von Fremden den Mund zu halten und keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als Katharina begriff, dass der komische kleine Mann nicht eher gehen würde, bis er sich seine Geschichte ertrotzt hätte, entschied sie sich für Rapunzel, das sie kurz und bündig in der Hoffnung abhandelte, er würde sich dann trollen.
Doch als sie fertig war, klatschte der alte Mann in die Hände, lachte sein zahnloses Lachen und drängte auf eine weitere Geschichte. Katharina weigerte sich, weil ihr Kind müde wäre. Seine Laune verschlechterte sich zusehends. Als sie ihn einlud, er könne gerne morgen wiederkommen, begann er herumzuschreien, und wie aus dem Nichts erschienen Wachen, die ihre Speere auf Katharina richteten. Mit Adriana auf dem Arm sprang Katharina auf die Füße und wich vor den goldenen Speerspitzen zurück. Der Alte schimpfte so zusammenhanglos vor sich hin, dass Katharina ihm nicht mehr folgen konnte, und plötzlich tauchte eine weitere Person auf.
Katharina beschlich der Verdacht, dass man nach dem Alten schon gesucht hatte.
Die neu hinzugekommene Person war die Dame aus dem Garten, die der Kammerherr als Himmlische Schwester tituliert hatte. Sie trug jetzt eine seidene Robe, die mit so naturgetreuen Blüten bestickt war, dass Katharina nicht weiter staunen würde, wenn sich ein Bienenschwarm darauf niederließe. »Warum bist du immer noch da und bringst meinen Bruder aus der Fassung?«, fuhr die Dame
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