Kristall der Träume
Welt ein Gegenstück hatte –
wahrscheinlich befand es sich im Besitz eines europäischen Edelmanns mit sonnengoldenem Bart, der darauf wartete, dass seine Tochter zu ihm kam. Sie betete auch zur Seele Don Adrianos, den sie ihr Leben lang lieben würde, und schließlich betete sie über der kleinen Gestalt ihrer Tochter, die ruhig und friedlich schlief und alle Albträume längst vergessen hatte.
Als die Sonne am nächsten Morgen durch die seidenen Vorhänge fiel und Katharina die leisen Stimmen der Höflinge, das Brunnengeplätscher und das Zwitschern der Vögel hörte, fragte sie sich, wie sie überhaupt hatte zögern können. Es stimmte, was Sommerrose gesagt hatte: Eine Proklamation aus Zhandu würde den letzten Winkel der Erde erreichen, und wenn es jemanden gab, der ihren Vater finden konnte, dann war es ein Abgesandter dieses Bergreichs.
Und schließlich hatte Katharina Lo-Tan wirklich sehr gern. So sagte sie ja, und an einem herrlichen Sommertag, an dem ganz Zhandu auf den Beinen war, um an der Feier teilzunehmen, heiratete die Deutsche Katharina Bauer - von Grünewald aus Torbach, Mutter des Kindes eines Marienritters, des Spaniers Don Adriano von Aragon, den als Albino geborenen Sohn von Sommerrose, Schwester des Himmlischen Herrschers, den Prinzen Lo-Tan, und wurde so zur Prinzessin Wei-Ming von Zhandu.
Wie versprochen sandte der Himmlische Herrscher Männer aus, die nach dem blauen Kristall und Katharinas Vater suchen sollten: Läufer und Boten schwärmten mit einem Aufruf aus, der jedem reiche Belohnung versprach, der mit einer Nachricht über den blauen Stein oder mit dem Kristall selbst oder einem goldbärtigen Fremden zu ihnen käme.
Die Botschaft ging in die Welt hinaus. Sie wurde von Kamelen und Yaks weitergetragen, durch Mundpropaganda von allen verbreitet, die von den Reichtümern Zhandus träumten, durch Gespräche in Garnisonen, Karawansereien, an Kreuzstraßen; wo immer sich Reisende am Lagerfeuer begegneten, waren der blaue Kristall und der goldbärtige Fremde ein Thema. Wie der Wind, der über die Sanddünen wehte, flog die Proklamation immer weiter, bis nach einem Jahr die ersten Ergebnisse eintrafen: Blaue Steine aller Art wurden zur Ebene am Fuß der Stadt Zhandu gebracht, manche so groß wie Melonen, andere so klein wie Erbsen, pfauenblaue und himmelblaue, manche ins Grünliche spielend, andere beinahe schwarz. Tag für Tag gingen die Wachen hinaus, um Steine einzusammeln und sie Katharina zur Begutachtung vorzulegen, doch die Belohnung wurde nie ausbezahlt.
Dann ließ der Himmlische Herrscher von seinen Hofkünstlern auf festem Papier Kopien des Diptychons von der heiligen Amelia anfertigen; die Kopien gaben das Original recht gut wieder, nur das lebendige Blau des Kristalls konnten die Künstler nicht einfangen, und die Heilige erhielt leicht asiatische Züge. Diese Bildchen wurden überall hin versandt, dazu auf Kosch, Lateinisch, Arabisch und Deutsch das Versprechen einer königlichen Belohnung. Jahre vergingen. Katharina empfand in ihrer Liebe zu Lo-Tan nie die Leidenschaft und das Verlangen, das sie für Adriano verspürt hatte, doch ihre Zuneigung zu dem sanften Mann vertiefte sich. Sie teilte seine sonnenlose Welt mit ihm, Adriana wuchs und gedieh und bekam einen Bruder, eine Schwester und schließlich noch einen Bruder. Als sie alt genug war, ging sie mit den anderen Kindern des Hofs zur Schule, lernte mit Hilfe eines Abakus einfache Summen auszurechnen und Buchstaben und Worte in der Zhandu-Kalligraphie aufs Papier zu pinseln. Geographische Kenntnisse konnte sie keine erwerben, da die Zandhu glaubten, die Welt sei eine Scheibe mit der Stadt Zhandu im Mittelpunkt, doch erhielt sie Lektionen in Astronomie und Mathematik, Poesie und Malerei.
Immer wieder wurden blaue Steine nach Zhandu gebracht, große und kleine, durchscheinende und undurchsichtige in allen Blautönen, dazu Geschichten von blondbärtigen Männern. Katharina hörte sich jede Geschichte mit derselben Aufmerksamkeit an, die sie der Prüfung der Steine widmete, doch keine wollte so recht auf den deutschen Edelmann passen, der nach Jerusalem gereist war, um dort nach dem blauen Wunderstein zu forschen.
Katharina war mit Lo-Tan und ihren Zhandu-Kindern glücklich, doch im Sommer des zehnten Jahres nach der Aussendung der ersten Proklamation kamen ihr immer größere Bedenken, ob sie die Reise nicht doch lieber selbst hätte unternehmen sollen. Da traf ein Läufer mit der Nachricht ein, Handelsreisende hätten
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