Kristall der Träume
gehabt hätte, sie zu heiraten, da er damit sein Gelübde brach. Und er hielt den Überfall am Smaragdfluss für seine gerechte Strafe dafür. Als Buße für seine Sünde hatte er die letzten zehn Jahre mit der Suche nach dem blauen Kristall und nach Katharinas Vater verbracht und sich Enthaltsamkeit auferlegt.
Katharina nahm seinen Vorschlag an, doch als sie sah, wie die Hofdamen nach dem stattlichen Fremden schielten und hinter ihren wedelnden Fächern tuschelten und kicherten, fragte sie sich, wie lange Adriano sein erneuertes Keuschheitsgelübde wohl halten könnte.
Staunend sann sie über die geheimnisvollen Fügungen des Schicksals nach. Wenn nun ihre Mutter, Isabella Bauer, gestorben wäre, ehe Katharina zu ihr eilen konnte? Wenn sie das Geheimnis von Katharinas Geburt mit sich ins Grab genommen hätte? Dann hätte Katharina Hans Roth geheiratet, wäre in das Haus hinter der Bierkrugmanufaktur gezogen und hätte bis ans Ende ihrer Tage geglaubt, Torbach sei die Welt.
Sie sagte zu Adriano: »Ich habe mich als Knabe verkleidet und habe in einem türkischen Harem gelebt; ich habe Schiffbruch erlitten, bin entführt und in die Sklaverei verkauft worden; ich war Christin, Muslimin und Götzenanbeterin; ich habe einen Mann geliebt, ihn verloren und wiedergefunden; ich habe Ekstase und Schmerz, Erfüllung und Verlust kennen gelernt. Ich habe Deutsch, Arabisch, Latein und Zhandu gesprochen, bin bis ans Ende der Welt gereist und habe unbeschreibliche Wunder gesehen. Doch Torbach ist mir bei alledem immer meine Heimat geblieben. Irgendwie ist es das immer noch, mit seinem bunten Marktplatz und dem alten Rathaus, dem Fluss, dem Wald und dem Schloss. Aber jetzt ist mir Zhandu zur zweiten Heimat geworden. Ich glaube zwar nicht mehr, dass ich jemals meinen leiblichen Vater finden werde, aber ich habe trotzdem einen Vater: den Himmlischen Herrscher. In dir, Adriano, habe ich einen Bruder und in Sommerrose eine dritte Mutter. Vettern und Basen, Tanten und Onkel habe ich hier haufenweise, meine Familie ist jetzt sogar noch größer als die der Roths in Torbach. Und ich habe Adriana, Lo-Tan und unsere gemeinsamen Kinder. All die Jahre habe ich mich nach meiner Familie gesehnt, und erst jetzt begreife ich, dass sie die ganze Zeit bei mir gewesen ist. Ich habe nach dem blauen Kristall gesucht, aber auch er war die ganze Zeit bei mir, in diesem kleinen Bild von der heiligen Amelia. Und so bleibe ich hier, in Zhandu, wo ich hingehöre.«
Interim
Katharina verbrachte den Rest ihrer Tage in dem entlegenen Königreich auf den Bergen, sah ihre Kinder heranwachsen und bestieg an Lo-Tans Seite den Thron, als er seinem Onkel als Himmlischer Herrscher nachfolgte. Als Sommerrose starb und zur letzten Ruhe gebettet wurde, trauerte Katharina erneut über alle ihre Mütter, die sie geliebt hatte. Und als Adriano im Alter von dreiundneunzig Jahren starb, trauerte die ganze Bevölkerung, so beliebt waren seine Geschichten gewesen.
Zwei Generationen kamen und gingen, Katharina von Grünewalds Geschichten wurden immer wieder aufs Neue erzählt, bis das Königreich Zhandu schließlich zusammenbrach. Es wurde nicht etwa von einem feindlichen Heer erobert, sondern von der Natur selbst, einem Erdbeben, das so gewaltig war, dass alle Mauern und Kuppeln und Türme der Märchenstadt einstürzten und ihre Bewohner unter sich begruben. Dann kamen Stürme, Regen und Schnee und überzogen die Ruinen Zhandus mit Schlamm und Felsbrocken und Flugsand. Jahrzehnte und Jahrhunderte vergingen, das Klima veränderte sich; Wüstensand legte sich über die letzte Spitze des letzten Turms, sodass fünfhundert Jahre später die Archäologen tief im Geröll würden graben müssen, um sich ein Bild zu machen, welche Stadt hier einst gestanden hatte.
Baron Johann von Grünewald war tatsächlich mit seinen Söhnen nach China gereist, nachdem er von einem Händler in Taschkent erfahren hatte, der blaue Stein sei bei einer Gruppe christlicher Mönche gelandet, die das Evangelium an den Hof des chinesischen Kaisers bringen wollten. Er vergaß nie, dass er in Deutschland eine Tochter bei einer Näherin zurückgelassen hatte, und hatte durchaus die Absicht, eines Tages zu ihr zurückzukehren. Doch der Baron war dazu geboren, in die Ferne zu schweifen, die Suche selbst wurde ihm zum Lebensziel. Wie der Heilige Gral, der viele andere Edle in ferne Länder zog, lockte ihn der Stein der heiligen Amelia. Doch als er ihn schließlich bei einer hoch gestellten Kurtisane fand
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