Kristall der Träume
abschnitt, hoffte er inständig, dass seine Mutter an diesem Nachmittag einen guten Draht zu den Geistern hatte; ihm stand nicht der Sinn nach einem heftigen Wortwechsel mit seiner Mutter. Er musste unbedingt weg aus Boston, anderenfalls würde er hier verkümmern.
Alles nur wegen Honoria, die ihn nicht heiraten wollte. Das hatte ihn zutiefst getroffen. Sein Herz war wund vor Schmerz, und kein Balsam konnte helfen. Was ihn jedoch besonders schmerzte, war die Art, wie sie seinen Heiratsantrag abgewiesen hatte. Mit entsetzter Stimme: »Ich könnte nicht mit einem Mann leben, der täglich mit Toten zu tun hat.« Aber Matthew machte ihr keinen Vorwurf deswegen. Honoria war ein zerbrechliches Wesen, das die meiste Zeit auf einer Chaiselongue verbrachte und dort ihre Besucher empfing. Und er selber war schließlich auch nicht gerade das Bild von einem Mann. Matthew Lively wusste sehr wohl, was die Leute sahen, wenn er vor ihnen stand: einen blassen jungen Mann, der gelegentlich stotterte und trotz seines Collegestudiums ein gerüttelt Maß an Unsicherheit an den Tag legte.
Dennoch, ihre Abweisung hatte ihn tief verletzt, und so beschloss Matthew Lively, fünfundzwanzig Jahre alt und über einem Glas Milch brütend, den Frauen für immer abzuschwören. In diesem Moment kam Hannah Lively, die Tochter von Molly Prentice, der ehemaligen Verlobten von Alexander Hamilton, in die Küche, eine einfache Frau in schwarzem Serge mit einer kleinen Spitzenhaube auf dem Kopf.
»War es eine gute Sitzung?«, fragte Matthew voller Stolz, denn seine Mutter war eine der gefragtesten Spiritistinnen der Ostküste.
»Die Geister erschienen heute sehr deutlich. Sogar ohne die Hilfe des Kristalls der Träume.« Sie sah ihren Sohn erwartungsvoll an.
»Mutter, der Stein hat nach Westen gezeigt!« Sie nickte weise. »Der Lenkende Geist des Steins weiß, was deine Bestimmung ist.«
Mit ihren sechzig Jahren und von Freunden wie Nachbarn als echte Prophetin gepriesen, glaubte Hannah Lively bedingungslos an die Kraft des Kristalls. Aus diesem Grunde erzählte Matthew ihr gar nicht erst, dass er den Stein elfmal hatte drehen müssen, bis er endlich in die gewünschte Richtung zeigte. Seiner Meinung nach musste sich der Stein wohl erst warm laufen.
»Ich muss sofort nach Independence in Missouri«, sprudelte er los. »Dort ist die Sammelstelle für die Wagenkolonnen nach Oregon.
Anfang Mai ist der beste Zeitpunkt zum Aufbruch, sagt man. Wenn ein Treck zu spät startet, findet er unterwegs nur noch zertrampelte Lagerplätze, faulige Wasserlöcher und keine Weidegründe mehr vor.
Und er könnte in den Küstengebirgen in die ersten Schneestürme geraten… « Bestürzt hielt Matthew inne, als ihm klar wurde, was er da gerade enthüllt hatte: dass er immer schon nach Westen hatte ziehen wollen.
Seine Mutter erhob keine Einwände. Solange der Wunderstein seinen Segen dazu gab, stand es ihrem Sohn frei zu gehen, wohin immer er wollte.
Sie hörten, wie sich die Haustür öffnete und schloss, hörten Füße auf der Fußmatte in der Halle stampften. Es war Matthews Vater, der den Regen von seinem Zylinder klopfte – ein hoch gewachsener Gentleman mit silbergrauen Schläfen und, wie es sich in seinem Beruf gebührte, würdevoller Erscheinung. Mit seiner sonoren Stimme sagte er: »Der Simpson-Junge ist tot. Es war die Lungenentzündung, es gab keine Hilfe für ihn«, und ging in die Bibliothek. Jacob Lively setzte sich an seinen Schreibtisch und erledigte, wie es seine Art war, zuerst das Geschäftliche. Wie ein gewissenhafter Buchhalter nahm der alte Lively einen leeren Totenschein zur Hand, tauchte seine Feder in die Tinte und füllte die Details sorgfältig aus, wobei er seine Taschenuhr zu Rate zog, um die genaue Todeszeit festzusetzen: Vom Haus der Simpsons brauchte man genau sechs Minuten zu Fuß.
Erst nachdem der geschäftliche Teil erledigt war, wandte Lively sich seiner Familie zu und kam, jetzt wieder ganz Ehemann und Vater, mit einem Lächeln hinter dem Schreibtisch hervor. »Darf ich aus dem Strahlen meines Sohnes schließen, dass eine Entscheidung gefallen ist?«
»Ich gehe nach Westen, Vater.«
Jacob zog den Jungen in seine Arme und sagte mit ungewohnter Wärme: »Du wirst mir fehlen, mein Sohn, und das ist bei Gott die Wahrheit. Aber du bist dazu bestimmt, in einem fremden Land Wurzeln zu schlagen. Deine Mutter und ich haben das immer schon gewusst.« Den Livelys war die wachsende Ungeduld ihres Sohnes nicht verborgen geblieben, und
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