Kristall der Träume
sie hatten Verständnis für seinen Wunsch, in ein Land zu gehen, wo er gebraucht wurde. Der Westen schien ihnen die passende Gegend, wo seine Fähigkeiten am ehesten zum Einsatz kommen würden. »Nun, da die Stunde gekommen ist, wünsche ich dir viel Glück, mein Sohn.«
Zum Abschied schenkten ihm die Eltern eine schöne schwarze Arzttasche, auf der seine Initialen in Goldprägung prangten. Das Zubehör in der Tasche, alles nagelneu: Skalpell und Scheren, Chirurgennadeln, chirurgisches Nahtmaterial aus Seide und Katgut, Verbandsmaterial, Spritzen und Katheter. Mit großen Augen zog Matthew ein besonderes Instrument aus der Tasche. »Ein Stethoskop! «
»Echte französische Handarbeit«, erklärte sein Vater mit unverhohlenem Stolz, waren doch derlei Geräte noch nicht so häufig auf dieser Seite des Atlantiks zu finden.
Das lange hölzerne Hörrohr, das man mit dem Trichter auf die Brust des Patienten setzte, war erst vor wenigen Jahren erfunden worden. Die ursprünglichen Stethoskope waren wesentlich kürzer gewesen, bis die Doktores dahinter kamen, dass sie mit einem längeren Hörrohr genug Distanz zum Patienten und seinen Flöhen halten konnten.
Bevor der Sohn jedoch seine Reise antrat, wollte die Mutter eine letzte Sitzung mit dem Kristall durchführen. In weiser Voraussicht, dass Matthew den Stein auf den dreitausend Meilen zwischen Boston und Oregon besser gebrauchen konnte als sie, würde sie ihrem Sohn den Kristall mitgeben.
Während seine Mutter sich in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers in spiritueller Kontemplation erging, wanderte Matthew unruhig vor dem Salon auf und ab. Sein bevorstehendes Abenteuer erregte und ängstigte ihn zugleich. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er die Initiative ergriffen. Schon als Kleinkind war er allem und jedem gefolgt. Später hatte er es sogar seinem älteren Bruder gleichgetan und den Beruf des Vaters ergriffen. Sollte Matthew doch einmal mit dem Gedanken an einen anderen Beruf gespielt haben, so hatte er ihn längst begraben, denn derlei kühne Unterfangen lagen nicht in seiner Natur.
Nach ihrer Zwiesprache mit dem Geist des Wundersteins drückte Hannah ihrem Jungen den Kristall in die Hand und schloss seine Finger darum. »Hör mir gut zu, mein Sohn«, sagte sie feierlich. »Dir steht eine große Schicksalsprüfung bevor. Du musst sie mit Stärke, Mut und Klugheit meistern.«
»Ich weiß, Mutter«, beschwichtige er sie. »Es ist eine lange, ungewisse Reise nach Oregon.«
»Nein, mein Sohn. Ich spreche nicht von der Reise. Sie wird mühsam sein, gewiss, aber welcher Weg wäre das nicht? Ich meine etwas anderes – einen Wendepunkt auf dieser Reise. Etwas«, ein sorgenvoller Ausdruck legte sich über ihr Gesicht, »Schreckliches und Dunkles.«
Das alarmierte ihn. »Kann ich es verhindern?« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist dir auferlegt, es ist deine Bestimmung. Aber es ist zugleich eine Prüfung. Lass den Kristall der Träume dich leiten, und er wird dich ins Licht und zum Leben führen.« Dann wurde es Zeit für den Abschied, denn eine lange Reise lag vor ihm – zu Fuß, zu Pferd, mit der Postkutsche, mit dem Schiff und dem Zug – von Boston nach Independence in Missouri, wo sein Schicksalsweg seinen Anfang nahm.
»Ich hab’s Ihnen schon mal gesagt«, erklärte der Trailcaptain laut und deutlich. »Ich nehme keine weiblichen Personen ohne Begleitung mit, und damit basta! «
Emmeline Fitzsimmons funkelte Arnos Tice erbost an. Sie hatte die letzten beiden Wochen in Independence, dem Ausgangspunkt für den Oregon-Trail, nur damit zugebracht, durch das riesige Lager am Missouri zu streifen, wo ausreisewillige Familien auf den Treck nach Westen warteten, und hatte immer noch keinen Kolonnenführer gefunden, der sie mitnehmen würde. Das war nicht fair. Allein reisende junge Männer fanden Platz in den Planwagen, nur eine allein stehende junge Frau nicht… Am liebsten hätte sie geheult.
Captain Amos Tice stammte eigentlich aus den Bergen, das ließ sich auch an seiner Kleidung sofort erkennen: Er trug eine lange, mit Fransen versehene Jacke aus Hirschleder über gestreiften Hosen und Stiefeln, ein Flanellhemd und einen mit Perlen bestickten Indianergürtel, an dem ein langes Jagdmesser baumelte. Sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht mit dem grauen Bart wurde von einem schweißgetränkten, breitkrempigen Hut beschattet. Keiner wusste so genau, wie er zu der Bezeichnung »Captain« gekommen war, aber er stand im Ruf, verlässlich zu sein und seine
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