Kristall der Träume
Touristenattraktion zu werden. Freundliche junge Fremdenführer pflegen atemlos lauschenden Touristen die verrückte Geschichte von Henri und Brigitte Bellefontaine zu erzählen, die, nur mit einem Fernrohr und einer Muskete bewaffnet, hundert blutrünstige Piraten im Verlauf einer einzigen Nacht zur Strecke brachte.
Das Schicksal wollte es, dass im Jahre 1760 Brigittes Sohn, ein zügelloser alter Mann, der an Gicht und Syphilis litt, mit einem Mann namens James Hamilton bei einer Pokerpartie saß. Bis auf den blauen Kristall, der seiner Mutter gehört hatte, hatte Bellefontaine nichts mehr bei sich. Der Wert des Steins war ihm nicht bekannt, er wusste lediglich, dass er als Stern von Kathay gehandelt wurde. Er verlor sein Spiel, und der Stein ging in den Besitz von James Hamilton über. Der schenkte ihn seiner Herzdame Rahel, die ihm wiederum zwei uneheliche Söhne schenkte. Irgendwann nach dem Umzug auf die Insel St. Croix verließ Hamilton seine Rahel und seine Söhne Alexander und James. Mit dem blauen Stein als Sicherheit erhielt Rahel einen Kredit und eröffnete damit ein kleines Ladengeschäft in der Hauptstadt, wo James bei einem Zimmermann in die Lehre ging und der elfjährige Alexander als Schreiberling bei einer Handelsniederlassung arbeitete. Raheis Geschäft prosperierte, und eines Tages kaufte sie den blauen Stein aus einer sentimentalen Anwandlung heraus zurück.
Als der jüngere Sohn sein siebzehntes Lebensjahr erreicht hatte, wurde er auf Betreiben eines Geistlichen und mit Mitteln der Gemeinde auf eine Schule nach New York geschickt. Im Verlauf seines Studiums am Kings College verliebte sich Alexander Hamilton in Molly Prentice, die Tochter eines Methodistenpfarrers, der er ewige Liebe schwor, und sein Versprechen mit dem blauen Stein besiegelte, den seine Mutter ihm zum Abschied aus der Karibik geschenkt hatte. Mollys Vater indes hielt nichts von der unstandesgemäßen Verbindung seiner Tochter und schickte sie zu Verwandten nach Boston, wo sie später einen Cyrus Harding ehelichte, dem sie acht Kinder gebar. Sie sah Hamilton nie wieder, behielt jedoch den blauen Stein als romantische Erinnerung an ihre erste Liebe. Als sie von Hamiltons Tod bei einem Duell erfuhr, konnte sie den Anblick des blauen Kristalls nicht mehr ertragen und schenkte ihn ihrer Tochter Hannah zur Hochzeit. Hannah, die zu mystischen Anwandlungen neigte und behauptete, mit den Toten kommunizieren zu können, befand, dass der Stein hierzu ein wertvolles Medium sei.
ACHTES BUCH
Der amerikanische Westen
Im Jahre 1848
»Osten, Süden, Norden, Westen, sag mir, o Geist, wo ist’s am besten.«
Nach dieser stillen Beschwörung hielt Matthew Lively die Augen noch einen Moment lang geschlossen, ehe er sie wieder öffnete, um zu sehen, wo der kreiselnde Kristall zur Ruhe gekommen war. Auf diese Art fällte Matthew alle wichtigen Entscheidungen – indem er den Wunderstein befragte. Er zeigte nach Westen.
Matthews Herz machte einen Sprung. Insgeheim wurde er schon länger von dem Wunsch getrieben, über den Horizont zu sehen, das neue Land hinter den Rocky Mountains zu entdecken und sich dort womöglich ein neues Leben aufzubauen. Hätte der Wunderstein indes nach Osten gewiesen, dann wäre Matthew nach Europa gesegelt; die südliche Richtung hätte ihn nach Florida gebracht, der Fingerzeig nach Norden hätte ihn in die kanadische Wildnis geführt.
Der Stein zeigte jedoch eindeutig auf das Wort »Westen«, das Matthew, zusammen mit den Wörtern »Süden«, »Osten« und
»Norden«, auf ein großes Blatt Papier geschrieben und die vier Himmelsrichtungen mit Hilfe eines Kompasses ausgerichtet hatte.
Dann hatte er den glatten Kristall, den seine Mutter »Kristall« der Träume nannte, in der Mitte des Papiers platziert und wie einen Kreisel gedreht. Als der tropfenförmige Stein zur Ruhe kam, zeigte sein schmaleres Ende nach Westen.
Freudig erregt knüllte Matthew das Papier zusammen und legte den Stein in seine mit Samt ausgeschlagene Schatulle zurück. Dann stürmte er die Treppe hinunter, um seiner Mutter von seinen Plänen zu berichten. Am Fuß der Treppe hielt er jedoch inne. Der Vorhang vor dem Besucherzimmer war zugezogen, das bedeutete, dass die Séance noch in Gange war und seine Mutter nicht gestört werden wollte.
Das machte nichts. Matthew würde sich bei Kuchen und Milch in der Küche gütlich tun, bis die geistsuchenden Kunden seiner Mutter gegangen waren.
Während er sich ein dickes Stück Schokoladenkuchen
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