Kristall der Träume
Jahrhunderte und Jahrtausende später, nachdem die Menschheit sich vervielfacht und die Grenzen ihrer Welt ausgedehnt hatte, trieben die Abkömmlinge der Großen ihr neues Wissen bis ins Extrem, indem sie ihr gesamtes Leben danach ausrichteten, den Geistern, die ihrer Umwelt innewohnten, niemals zu nahe zu treten oder ihren Unmut heraufzubeschwören. Sie mussten, um ihre Welt im Gleichgewicht zu halten, ständig auf der Hut sein. Der kleinste Fehltritt konnte die Geister kränken und Unglück über die Menschen bringen. Wollten sie einen Wasserlauf überqueren, pflegten sie zu sagen: »Geist dieses Gewässers, wir kommen in friedlicher Absicht.«
Wenn sie ein Tier töteten, baten sie es um Verzeihung. Ihr Leben lang waren sie bemüht, ihre Umgebung zu »deuten«. Während ihre Vorfahren vor fünfundsechzigtausend Jahren einem rauchenden Vulkan keinerlei Aufmerksamkeit schenkten, sahen Laliari und ihre Familie im kleinsten Funken der glühenden Kohle ein Omen. Alawa fragte sich beim Deuten ihrer magischen Steine nun, was sie bei dem großen Sumpfmeer falsch gemacht hatten, um es so zu erzürnen, dass es ihre Männer verschlang. Natürlich hatten sie nicht gewusst, dass hier einmal ein Meer entstehen würde und folglich nicht die passenden Worte sprechen können. Sie hatten nicht einmal seinen Namen gekannt, wie also sollten sie seinen Geist beschwören? Und doch musste es Zeichen gegeben haben, es gab immer Zeichen. Was war ihrer Aufmerksamkeit entgangen, das die Katastrophe hätte verhindern können?
Und zukünftige Katastrophen, dachte Alawa düster, während sie ihre magischen Steine einsammelte. Denn ihre Steine und Kiesel, die über zahllose Generationen weitergereicht worden waren, bis zurück zur ersten Hüterin der Gazellenhörner, hatten ihr wieder dieselbe Botschaft vermittelt: dass die Kinder würden sterben müssen. Alawa spähte durch die Bäume auf dieses traurige Häuflein Frauen und Kinder. Sie waren alle ausgelaugt von schlaflosen Nächten, in denen sie von Albträumen gequält wurden, die Alawas Auffassung nach daher rührten, dass sie für die Toten keine »stille Wache« gehalten hatten. Hätten sie dieses Ritual gefeiert, würden die unglücklichen Geister jetzt nicht die Träume der Lebenden heimsuchen. Ihre eigene Tochter auf der Flucht, einen Eindringling dicht auf den Fersen, der sie am wehenden Haar packte, zu Boden warf und mit seiner schweren Keule wieder und immer wieder auf sie niederfuhr.
Anfangs waren es nur einige wenige Eindringlinge gewesen, die von Doron und den anderen Jägern vertrieben werden konnten. Doch dann waren mehr Fremde gekommen, die wie die Ameisen über die westlichen Hügel gezogen kamen, bis Alawas Volk überwältigt war.
Der kleine Hinto, der Sohn von Alawas Tochter, am Arm gepackt und in die Luft geschleudert und beim Herabfallen von einer Speerspitze durchbohrt, lstaqa, die Hüterin der Mondhütte, die herumwirbelt und einem der Verfolger einen Speer entgegenschleudert, wird von einem Felsbrocken am Kopf getroffen.
Das viele Blut, das in die Erde sickert. Die Schreckensschreie der Gepeinigten. Das Stöhnen der Sterbenden. Todesangst und blinde Panik. Die alte Alawa, um ihr Leben rennend, ihre Schritte im Takt mit ihrem jagenden Puls. Der junge Doron, der mit den Jägern zurückblieb, um die Trauen und die Alten zu schützen.
Vielleicht sollten sie die »stille Wache« jetzt abhalten, überlegte Alawa, als sie sich mühsam aufrichtete. Womöglich würde das die unglücklichen Geister besänftigen, die in ihren Träumen spukten. Es gab da nur ein Problem: Um das Ritual durchzuführen, mussten sie die Namen der Toten aussprechen, und das bedeutete, das größte Tabu des Clans zu brechen.
Beim Anblick der Kinder wurde ihr das Herz schwer. Es gab so viele Waisen darunter, deren Mütter im Kampf mit den Eindringlingen gefallen waren. Und dann der kleine Gowron, ihrer Tochter Tochter Sohn, der gerade mit einem Frosch spielte. Alawa hatte seine kleine Nase eigenhändig durchbohrt, um böse Geister von ihm abzuhalten. Bei dem Gedanken, dass er sterben musste, krampfte sich ihr Herz zusammen.
In ihrem Heimatland hatten die Menschen in ständiger Furcht vor ihrer Umgebung gelebt. Der Tod kam oft überraschend, schnell und brutal, sodass es selbst zwischen vertrauten Felsen, Bäumen und Flüssen genug zum Fürchten gab. Die Menschen waren immer bestrebt gewesen, die Geister nicht zu kränken, hatten immer die richtige Formel gesprochen, die richtigen Amulette getragen
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