Kristall der Träume
aufzusetzen, das mit Bändern aus Tiersehnen unter dem Kinn festgebunden wurde. Alawas Ohrläppchen waren mit der Zeit durch Schmuckstecker so lang gezogen, dass sie ihr bis auf die knochigen Schultern hingen. Zwischen ihren verwelkten Brüsten hingen Halsketten aus Muscheln, Knochen und Elfenbein. Amulette bedeckten den übrigen Körper, dienten jedoch nicht der Dekoration, sondern rituellem Zauber. Alawas Stamm wusste, dass zum Überleben jede Körperöffnung vor dem Eindringen böser Geister geschützt werden musste. Bei Kindern wurde die Nasenscheidewand mit dem Kiel einer Straußenfeder durchbohrt und ein Leben lang mit einer Elfenbeinnadel offen gehalten. Das sollte böse Geister abhalten, durch die Nasenlöcher einzudringen. Auch Ohren, Ober-und Unterlippen wurden durchbohrt. Zauberamulette, an Gürteln getragen, hingen schützend vor Scham und Gesäß, denn jedermann wusste, dass die Geister auch durch Rektum oder Vagina in den Körper eindringen konnten.
Der andere Greis war Bellek, der Schamane des Clans und Hüter der Pilze. Wie Alawa hatte er langes weißes Haar mit eingeflochtenen Perlen, die beim Gehen leise klickten. Sein einziges Kleidungsstück bestand aus einem Lendenschurz von weichem Gazellenleder, und sein Körper war ebenfalls mit Zauberamuletten behängt. Bellek trug getrocknete Pilze in einem Lederbeutel bei sich, doch suchte er die bewaldeten Ufer dieses fremden Flusses auch nach frischen Pilzen ab. Er brauchte eine ganz bestimmte Sorte, mit langem dünnen Stiel und charakteristisch geformtem Hut, der ihn immer an die Brustwarze einer Frau denken ließ. Nach dem Genuss dieser Pilze wurde man auf eine Ebene gehoben, wo übernatürliche Wesen lebten.
Laliari war froh, dass Bellek und Alawa dem Clan erhalten geblieben waren, denn die Stammesältesten genossen das höchste Ansehen im Clan, und beide zusammen, dessen war sich Laliari sicher, würden den Mond finden.
Als ob sie den Blick gespürt hätte, blieb Alawa unvermittelt stehen, wandte sich um und starrte die junge Frau durchdringend an.
Die anderen blieben ebenfalls stehen und schauten verunsichert auf Alawa. Eine beängstigende Stille trat ein. Es war die Stille böser Geister, die nur darauf lauerten, Besitz von ihnen ergreifen zu können. Einige der Frauen zogen ihre Kinder näher zu sich heran und drückten ihre Babys fester an die Brust. Der Moment schien endlos zu sein, Laliari hielt den Atem an, alle warteten. Dann drehte Alawa, die zu einem geheimen Entschluss gekommen zu sein schien, sich wieder um und setzte ihren mühsamen Weg fort. Alawas geheimer Entschluss war folgender: Die Zeit war noch nicht reif, die anderen an ihrer neu gewonnenen Erkenntnis teilhaben zu lassen, und das machte ihr das Herz schwer. Sie hatte die magischen Steine gedeutet, ihre Träume befragt, sie hatte im Rauch des Lagerfeuers gelesen und den Funkenflug verfolgt. Alle diese Zeichen zusammen hatten Alawa eine schreckliche Wahrheit offenbart: Die Kinder mussten sterben, damit der Clan überleben konnte.
Gen Nachmittag lichtete sich wie erwartet der Nebel und gewährte den Flüchtlingen einen Blick auf ungewohntes Waldland und sandige Flussufer, ehe die Sonne unter den Horizont rutschte und ihnen das Tageslicht nahm.
Sie hielten an, um zu rasten. Während Keeka und andere junge Mütter sich ans Stillen ihrer Babys machten und die Mädchen zum Wasserholen gingen, verteilte Laliari ihre letzten Datteln, die sie vor einigen Tagen in einem kleinen Palmenhain am Fluss gesammelt hatten. Sie hatten sich auf der Stelle an den süßen Früchten gelabt und dann noch ihre Tragekörbe für den langen Weg gefüllt. Während die anderen aßen, löste Alawa sich von der Gruppe und suchte nach einer im Halbschatten liegenden Stelle, um ihre Zaubersteine zu befragen. Bellek hingegen ging gebeugt umher und untersuchte mit seinen kurzsichtigen Augen jeden Ast und jeden Zweig, jeden Strauch und jeden Grashalm, um herauszufinden, ob dies ein glücklicher Ort zum Rasten sei. Noch hatte er hier wenig guten Zauber spüren können.
Fünfundsechzigtausend Jahre vor dieser Zeit wäre es einem Mann namens Löwe niemals in den Sinn gekommen, dass sein Volk seine Lebensumstände ändern könnte. Einem Mädchen mit Namen die Große jedoch schien dies möglich, und ihr entschlossenes Handeln hatte ihr Volk vor dem Untergang bewahrt. Das größte Vermächtnis an ihre Nachkommen lag in der Erkenntnis, dass sie sich den Gegebenheiten nicht bedingungslos beugen mussten. Nun aber,
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